Geschichte

Jenseits der Legende

Juni 1973: Premierministerin Golda Meir und Bundeskanzer Willy Brandt in Jerusalem Foto: picture-alliance / dpa

Eine schöne Legende ist die vom Juden- und Israelfreund Willy Brandt (SPD). Nein, ein Antisemit oder Israelfeind war »Willy« wahrlich nicht, aber eben auch kein wahrer Freund. Erst recht kein Helfer, vom Helfer in der Not ganz zu schweigen. Vor genau 50 Jahren, vom 7. bis zum 11. Juni 1973, stattete er als erster Bundeskanzler Israel einen Staatsbesuch ab.

Dass »nach Auschwitz« in Israel bei der ersten Visite eines amtierenden deutschen Kanzlers keine Schalmeientöne erklingen würden, wunderte niemanden. Auch deshalb nicht, weil es den deutschen Behörden im November 1969 nicht gelungen war, einen glücklicherweise misslungenen Bombenanschlag auf Heinz Galinski, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, durch deutsche, mit Palästinensern zusammenarbeitende Linksterroristen zu verhindern.

terror Auch nicht den palästinensischen Terror gegen EL-AL-Passagiere am 10. Februar 1970 am Flughafen München. Ebenso wenig den bis heute nicht aufgeklärten Brandanschlag gegen das Jüdische Altersheim München am 13. Februar 1970. Noch weniger im September 1972 das Massaker an israelischen Sportlern durch palästinensische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München.

Dass dann im Oktober 1972 die Brandt/Scheel-Bundesregierung mit aktiver Hilfe der CSU-Führung in Bayern die drei überlebenden Terroristen nach einer (wahrscheinlich inszenierten) Flugzeugentführung freiließ, hatte Israels Gesellschaft empört. Einer der drei lebt noch, und bis heute hat Deutschland nicht seine Auslieferung beantragt. Jüngst prahlte er, öffentlich-rechtlich ausgestrahlt, vor der globalen TV-Gemeinde mit seiner und seiner Komplizen »Heldentat«.

Auch an den Angehörigen der israelischen Olympia-Opfer zeigte sich Amtsdeutschland von Brandt bis Olaf Scholz herablassend uninteressiert. Im September 2022 änderte sich wenigstens dieser Kurs. Gewiss kannten Brandts israelische Gesprächspartner die erwähnten Vorgeschichten. Sie dürften ebenfalls darüber informiert gewesen sein, dass bereits der junge Sozialist Willy als Internationalist den Zionismus und damit das Streben nach einem jüdischen Staat als Nationalismus ablehnte.

ideologie Das war mitnichten Antisemitismus, denn Internationalismus, nicht Nationalismus, gehört(e) zum Kern des Sozialismus. Der zionistischen Ideologie gegenüber blieb Willy Brandt lebenslang eher distanziert. Die historischen Dokumente zeigen, dass er, ebenso wie die Exil-SPD, den millionenfachen Judenmorden der NS-Deutschen wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Zu Beginn des Sechstagekrieges 1967, als nicht nur Juden in aller Welt um die Existenz Israels bangten, erklärte Bundesaußenminister Brandt im Bundestag, Deutschland bleibe strikt neutral, wenngleich dies keine »moralische Indifferenz oder Trägheit des Herzens« bedeute. Im Klartext: nette Worte, nicht mehr.

Bereits der junge Sozialist Willy Brandt lehnte den Zionismus ab.

Hochgesteckt waren die Erwartungen des damals sozialdemokratisch dominierten politischen Israel, als »Genosse und Anti-Hitler-Kämpfer Willy« im Oktober 1969 Kanzler wurde. Schnell folgte Enttäuschung. Kein Wunder, denn: Adressat der Neuen Ostpolitik Brandts war – und musste sein – die Sowjetunion. Diese wiederum führte von Januar bis August 1970 an der Seite Ägyptens aktiv Krieg gegen Israel.

ostpolitik Um ostpolitisch erfolgreich zu agieren, musste Brandt daher die traditionell pro-israelische Haltung Bonns korrigieren, wollte er nicht selbst seine Ostpolitik sabotieren. Das missfiel nicht nur Israels sozialdemokratischer Ministerpräsidentin Golda Meir. Über sie hatte der Kanzler vertraulich auch mit konservativen Politikern, wie Frankreichs Präsident Georges Pompidou, keineswegs freundlich gesprochen. Zu ihr und nach Israel zog es Brandt nicht.

Die im Februar 1971 ausgesprochene Einladung zu einem Staatsbesuch verschob er mehrfach. Wenig überraschend, denn noch war seine Ostpolitik nicht abgeschlossen. Sowohl das Viermächteabkommen über (West-)Berlin vom September 1971 als auch den am 21. Dezember 1972 geschlossenen Grundlagenvertrag mit der DDR gab es Anfang 1971 noch nicht. Folgerichtig öffnete Brandt erst 1973 sein Tor nach Israel.

Auch die deutschlandskeptische Golda Meir hatte Willy nicht aus Liebe zu Deutschland eingeladen. Sie suchte trotz der erwähnten Vorgeschichte(n) über Brandts Person und seine Regierung dessen Wohlwollen und Hilfe. Sie hoffte, den 1971 mit dem Friedensnobelpreis nobilitierten Deutschen als Vermittler eines ägyptisch-israelischen Friedens gewinnen zu können. Ihr Plan beinhaltete im Gegenzug zu einem Friedensschluss den Rückzug Israels aus allen im Junikrieg 1967 von Ägypten sowie aus weiteren, von Jordanien und Syrien eroberten Gebieten. Im Vergleich zu den Waffenstillstandslinien von 1949 also ein »Israel plus« sowie, gemessen am 1967 besetzten Territorium, ein »Israel minus«.

Was tat Brandt? Nichts. Im Oktober 1973 eröffneten Ägypten und Syrien den Jom-Kippur-Krieg. Beinahe wäre Israel untergegangen. Die USA wollten Israel Waffen liefern. Was tat die Regierung Brandt? Sie untersagte den Amerikanern die Rettung Israels über deutsches Gebiet. Jenseits der Legenden sind das Fakten zur Israelpolitik des »Friedenskanzlers«.

Der Autor ist Historiker und Publizist. Zuletzt erschien von ihm die Neufassung von »Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen«.

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