Auschwitz-Prozess

Im Namen der Opfer

Frühling in Lüneburg. Im Hinterhof der Michaeliskirche blühen die Bäume. Im Saal der angrenzenden »Ritterakademie« tagt weiterhin das Landgericht zur Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen gegen den 93-jährigen Oskar Gröning – den »Buchhalter von Auschwitz«.

Ilona Kalman schaut Gröning lange an, ehe sie sich nach ihren Ausführungen aus dem Zeugenstand erhebt. »Ich habe versucht, mir sein Gesicht einzuprägen«, sagt die 67-Jährige, die mit ihrer Schwester Judith aus Montreal angereist ist, später. »Aber ich konnte nichts Böses darin erkennen. Es sind schon sehr seltsame Umstände, die uns in diesen Gerichtssaal geführt haben.«

Lebensgeschichten Kalman will der Zweiten Generation, den Söhnen und Töchtern der in der Schoa Ermordeten, eine Stimme in diesem Prozess geben. Lange hatte sie überlegt, ob sie auf die Anfrage des Rechtsanwaltes Thomas Walther reagieren und im Namen ihrer ermordeten Halbschwester als Nebenklägerin an dem Prozess teilnehmen sollte.

Jetzt spricht sie von einem »Moment der historischen Abrechnung« und sagt, dass sie vor allem die Geschichte ihrer Familie erzählen möchte. Die Schicksale ihrer Verwandten dürften nicht als bloße Nummern, sondern sollen als individuelle Geschichten in Erinnerung bleiben. Kalman liest einen vorbereiteten Text vor. Es ist die Lebensgeschichte ihrer Halbschwester Évike, die sie nie kennengelernt hat und die mit sechs Jahren in Auschwitz vergast wurde.

Ilona Kalman ist nicht die einzige Vertreterin der Zweiten Generation unter den etwa 60 Nebenklägern. Auch Henriette Beck aus dem bayerischen Neumarkt ist angereist. Ihr Vater überlebte Auschwitz, aber seine erste Ehefrau und die gemeinsame Tochter, damals fünf Jahre alt, wurden ermordet. Auch aus der Verwandtschaft ihres Vaters überlebte kaum jemand. »Diese Schattenfamilie hat mich immer begleitet«, sagte die 58-Jährige in Lüneburg.

Folgen Der Prozess gegen Oskar Gröning macht auch die Geschichte einer ganzen Generation Nachgeborener deutlich. Es geht auch um die Folgen und Auswirkungen der Schoa. »Es wäre ethisch falsch, mich neben den Überlebenden als Opfer zu bezeichnen«, relativiert Kalman ihre eigene Rolle als Nebenklägerin in dem Prozess, an der Seite von Auschwitz-Überlebenden. »Jeder Schmerz, den ich erlitten habe, kann mit ihrem nicht verglichen werden.«

Verhandelt wird mittlerweile nur noch drei Stunden pro Tag, nachdem vor zwei Wochen wegen Krankheit des Angeklagten ein Prozesstag ausgefallen war. »Herr Gröning war an einem Infekt erkrankt nebst einem akuten Schwächezustand«, hatte der Vorsitzende Richter Franz Kompisch erklärt. Vermutlich bleibt Gröning für den Rest des Prozesses nur eingeschränkt verhandlungsfähig.

An dem ausgefallenen Prozesstag hätte Irene Weiss aussagen sollen. Die 84-Jährige aus Fairfax in den USA hat in Auschwitz ihre Eltern und vier Geschwister verloren. Sie selbst kam als 13-Jährige ins KZ und musste im Effektenlager »Kanada« Zwangsarbeit leisten. Hier wurden Geld und Gegenstände aufgehoben oder gleich weiterverwertet, die den Häftlingen abgenommen worden waren. Es war der Besitz, den Gröning in Auschwitz einsammelte, katalogisierte und der SS übergab. Gröning, der von sich behauptet, nur im moralischen, nicht im juristischen Sinne schuldig zu sein, leistete als SS-Unterscharführer an der Rampe von Auschwitz Dienst.

Irene Weiss konnte ihre Aussage schriftlich machen. Ihr war es sehr wichtig, dem Gericht mitzuteilen, dass auch in dem Bereich, in dem sie arbeiten musste, alles über die Vergasungen bekannt war. »Die Mordmaschinerie laufen zu sehen, ist etwas, das ich nicht vergessen kann«, sagte sie am Rande des ausgefallenen Prozesstages. Gröning gegenüberzutreten war ihr nicht möglich.

Gefühlsregung Als Ilona Kalman die Geschichte von Évike erzählte, folgte Oskar Gröning ihr mit gesenktem Kopf, aufmerksam, aber nahezu ohne sichtbare Gefühlsregung. Nur einmal, als ein Foto der kleinen Évike auf die große Leinwand hinter den Richtern projiziert wurde, schaute er hin.

»Ich würde mir wünschen, dass er noch über seine bisherigen Eingeständnisse hinaus geht, dass er einbricht und für sich seine Schuld akzeptiert. Das wäre außerordentlich«, sagte Kalman, nachdem auch der Verhandlungstag, an dem sie aussagte, aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden musste. Grönings Trennung zwischen moralischer und juristischer Schuld versteht sie nicht. »Deshalb hoffe ich auch, dass dieses Verfahren mit einem Schuldspruch endet.«

Diese Erwartung haben fast alle Nebenkläger, Schoa-Überlebende und Vertreter der Zweiten Generation. »Das einzige Urteil, das mich irritieren würde, wäre ein Freispruch«, sagte jüngst Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zwei seiner Großeltern wurden in Auschwitz ermordet. Er sagt, was auch bei den Nebenklägern in Lüneburg oft zu hören ist: »Ob dieser betagte Mensch ins Gefängnis kommt, ist für mich nicht entscheidend.«

Hamburg

Block-Prozess: Israelischer Firmenchef vernommen

Die Block-Kinder sollen an Silvester 2023/24 von einer israelischen Sicherheitsfirma aus der Obhut ihres Vaters entführt worden sein. Nun hat der Firmenchef bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt

von Bernhard Sprengel, Sebastian Engel  18.11.2025

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  18.11.2025

Berlin

Israelfeindliche Aktivisten beschmieren Kanzleramt

Die Täter, ein Mann und eine Frau, befinden sich bereits wieder auf freiem Fuß

 18.11.2025

Meinung

Die Schön-Wetter-Freunde Israels sind zurück! 

Die Wiederaufnahme der Waffenexporte ist richtig und notwendig. Doch das ändert nichts daran, dass die Bundesregierung das Vertrauen Israels und vieler Juden vorerst verloren hat

von Sarah Cohen-Fantl  18.11.2025 Aktualisiert

Berlin

Mehr als 500 Rechtsextremisten mit Haftbefehl gesucht

Nach knapp 40 von ihnen wird wegen Gewaltstraftaten gefahndet

 18.11.2025

Berlin

Deutsch-Israelische Gesellschaft kritisiert geplante deutsche Millionenhilfen für UNRWA

Volker Beck: »Hilfe darf nicht über einen Kanal erfolgen, der in die terroristischen Aktivitäten der Hamas verstrickt war und ist«

 18.11.2025

Deutschland

»Das ist Verrat am Vaterland«

Unionsfraktionschef Jens Spahn äußert sich einmal mehr klar zur AfD

 18.11.2025

Riad/Washington

USA liefern F-35-Kampfjets an Saudi-Arabien

Bislang wurden diese in der Region nur an den engen Verbündeten Israel abgegeben

von Christoph Meyer, Cindy Riechau, Franziska Spiecker  18.11.2025

USA

Clinton-Minister zieht sich wegen Kontakt zu Epstein zurück

Der Skandal um den verstorbenen Sexualstraftäter zieht weitere Kreise. Ein früherer Minister kündigt nun wegen seiner persönlichen Beziehung zu Epstein Konsequenzen an

 18.11.2025