Interview

»Ich würde keine Rakete segnen«

Henry Soussan über seinen Job als Militärrabbiner der US-Armee in Bayern, Bärte im Dienst und Familienfrieden

von Ayala Goldmann  18.01.2020 17:31 Uhr

»In Kuwait, Afghanistan und dem Irak war ich vor allem Eheberater«: Henry Soussan (55) Foto: privat

Henry Soussan über seinen Job als Militärrabbiner der US-Armee in Bayern, Bärte im Dienst und Familienfrieden

von Ayala Goldmann  18.01.2020 17:31 Uhr

Herr Rabbiner Soussan, wie wird man eigentlich Militärrabbiner? Ich nehme an, das war nicht Ihr Berufswunsch als Kind?
Nein, weder meine Familie noch ich selbst haben einen militärischen Hintergrund. Ich bin in Freiburg aufgewachsen und habe in den 80er-Jahren in Heidelberg Jura studiert und war auch an der Hochschule für Jüdische Studien. Damals waren noch viele US-Soldaten in Deutschland stationiert, und Heidelberg war das Hauptquartier der NATO. Deswegen waren in der Stadt immer Militärrabbiner. Ich war zeitweise Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Heidelberg und habe diese Rabbiner zu uns eingeladen. Mich haben ihre Gottesdienste fasziniert …

Warum? Waren das andere Typen von Rabbinern als die, die Sie kannten?
Ja, auch die orthodoxen. Sie hatten keine Bärte, weil das damals in der Armee verboten war. Der Gottesdienst war inklusiver und offener, weniger formal, als ich es kannte, und das nicht nur bei den Reformrabbinern. Auch im orthodoxen Gottesdienst wurde viel auf Englisch gebetet, und ich denke, die Leute haben sich miteinbezogen gefühlt, weil sie verstanden haben, worum es geht.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA haben Sie sich dazu entschieden, als Rabbiner in die US-Armee einzutreten. Wie kam es dazu?
Ich habe Jura studiert und anschließend ein Rabbinatsstudium absolviert. Meine Smicha habe ich in Israel bekommen. Ich wollte aber damals nicht Gemeinderabbiner werden, sondern in der akademischen Welt bleiben. Ich bin mit meiner Familie nach England ausgewandert und habe am Centre for German-Jewish Studies mein Doktorat in deutsch-jüdischer Geschichte gemacht. Als Rabbiner habe ich zwar auch gearbeitet, aber nicht hauptamtlich. An Purim 2001 hat mich in Heidelberg ein US-Militärrabbiner angesprochen und mir gesagt: »Wir brauchen mehr jüdische Kaplane, bewirb dich doch bei uns.« Ich dachte zuerst, zur Armee hätte ich keinen Bezug, aber nach den Anschlägen vom 11. September habe ich meine Meinung geändert. Dazu kommt, dass meine Frau Amerikanerin ist. Ich habe mich bei der US-Armee beworben. In South Carolina ist die Chaplin School. Dort gehen alle Militärgeistlichen zur Ausbildung hin, und dort habe ich meine zwölfwöchige Grundausbildung gemacht.

An der Waffe?
Nein. In den USA dürfen Armeekaplane keine Waffe tragen. Aber jeder Kaplan hat einen bewaffneten Assistenten, und in gefährlichen Situationen wird er dem Geistlichen zur Seite gestellt.

In Deutschland gab es lange Zeit Vorbehalte gegen Geistliche in der Armee, die die Waffen segnen. Kennen Sie solche Bedenken?
Ich persönlich habe noch nie Waffen gesegnet. Das ist mir fremd. Wenn ich Gebete spreche, dann für die Soldaten, damit sie unversehrt aus Einsätzen zurückkommen.

Ich persönlich habe noch nie Waffen gesegnet. Wenn ich Gebete spreche, dann für die Soldaten, damit sie unversehrt aus Einsätzen zurückkommen.

Würden Sie für einen Sieg beten?
Ja, aber ich würde keine Rakete segnen. Ich denke auch, dass es eine richtige Entscheidung ist, dass die Kaplane nicht bewaffnet sind. Diejenigen Militärgeistlichen, die bei ihrem Dienst im Irak und in Afghanistan getötet wurden, wären auch umgekommen, wenn sie eine Waffe getragen hätten.

Bei Ihrer Grundausbildung in South Carolina waren Sie schon 37 Jahre alt. Mussten Sie durch den Schlamm robben?
Ja, robben, rennen, rapportieren, wie ganz gewöhnliche Soldaten. Ich bin heute 55, und ich muss immer noch alle sechs Monate einen Fitnesstest bestehen, ansonsten bin ich meinen Job los. Ich mache jeden Tag Sport.

Wo kamen Sie anschließend zum Einsatz?
Mein erster Standort war ein großes Ausbildungslager in Oklahoma. Und ich weiß noch, eines Tages kam ein katholischer Soldat zu mir und sagte: »Chaplain, ich muss mit Ihnen reden.« Ich wollte ihn an einen katholischen Kaplan verweisen, aber er wollte nicht zu Chaplain John, den er nicht kannte, sondern er wollte mit mir sprechen. Der junge Mann war 18 oder 19. Sein Problem war, dass er in der Armee seinen Glauben verloren und Angst vor einem Besuch bei seinen Eltern hatte. Weil er befürchtete, sie könnten herausfinden, dass er nicht mehr an Gott glaubt.

Was haben Sie ihm geraten?
Ich habe ihm geraten, in der Armee vielleicht doch noch einmal zum Gottesdienst zu gehen. Also ein Versuch, ihn zur Kirche zurückzuführen.

Hatten Sie Erfolg?
Der Besuch bei den Eltern war anscheinend nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte. Anschließend habe ich ihn aus den Augen verloren. Ich kann also nicht behaupten, dass er Militärpfarrer geworden ist.

Wie ging es für Sie weiter?
Meine nächste Station war England, und von dort aus wurde ich im Sommer 2008 nach Kuwait versetzt. Dort war ich der einzige jüdische Militärkaplan im Mittleren Osten. Man hat mich, wenn es nötig war, auch in den Irak und nach Afghanistan geschickt.

Ich bin heute 55, und ich muss immer noch alle sechs Monate einen Fitnesstest bestehen, ansonsten bin ich meinen Job los. Ich mache jeden Tag Sport.

An jüdischen Feiertagen?
Ja, und 2009 auch nach einem Anschlag auf einen Konvoi in Afghanistan, bei dem zwei jüdische Soldaten ums Leben kamen. In Kabul wurde eine zentrale Trauerfeier veranstaltet, und sie wollten unbedingt einen jüdischen Kaplan dabeihaben.

Sie haben auf Hebräisch gebetet und einen Tallit getragen. Gab es Sicherheitsbedenken?
Der örtliche Militärkaplan hatte Bedenken, weil an diesem Tag auch Memorial Day war, der amerikanische Gedenktag. Der gesamte amerikanische Generalstab in Afghanistan und auch der afghanische Generalstab waren anwesend, der Sender Al-Arabija hat live übertragen, und man wusste nicht, wie ein hebräisches Gebet auf die Zuschauer wirkt. Aber danach haben sich die afghanischen Generäle mir gegenüber sehr positiv geäußert.

Die Toten wurden in die USA zurückgeflogen?
Die Särge wurden durch das Camp gefahren und dann ins Flugzeug getragen. Eines der Opfer war eine 25-jährige Frau im Leutnantsrang, die erste, die an der Air-Force-Akademie ausgebildet worden war. Das war ein sehr tragischer Fall. Diese junge Frau sollte in wenigen Wochen in die USA zurückkehren, sie war verlobt, ihre Hochzeit war schon geplant. Ich hatte danach auch Kontakt zu der Familie.

Wie genau lief die Zeremonie ab?
Ich habe das Gebet El Male Rachamim gesprochen und auch den Kampf gegen die Taliban und den Terror in meine kurze Trauerrede miteingebunden, weil ich alle Zuhörer ansprechen wollte. Aber es war klar, dass es eine jüdische Feier war.

War das Ihr dramatischster Einsatz?
Auf jeden Fall.

Was können Sie von Ihren Einsätzen im Irak berichten?
Ich bin immer nur von Kuwait aus in den Irak geflogen, zum Beispiel für einen Schabbatgottesdienst oder zu den jüdischen Feiertagen. Aber ein Militärrabbiner in den USA hat nicht nur für Juden da zu sein, sondern zu 99 Prozent auch für Nichtjuden. Ich halte zwar Gottesdienste am Freitagabend, aber ich muss mich um alle Soldaten kümmern.

Ihre Hauptarbeit ist also Seelsorge?
Ja, der Kaplan ist der einzige Offizier in der amerikanischen Armee, der vollkommene Schweigepflicht hat. Die Soldaten können zu mir kommen und mir alles erzählen, auch wenn sie etwas Illegales getan haben und Konsequenzen fürchten. In Kuwait, Afghanistan und dem Irak war ich vor allem Eheberater.

Ich habe einige orthodoxe Soldaten kennengelernt. Sie haben Schwierigkeiten, aber oft sind die Kommandeure auch bereit, ihren Dienst am Schabbat zu verschieben.

Weil die Soldaten ihre Frauen vermisst haben?
Die Familien durften ja nicht mit, und die Männer waren bis zu 18 Monate von ihren Frauen getrennt. Oft gab es Beziehungsprobleme, oder es gab Schwierigkeiten mit den Kindern zu Hause, und die Männer konnten nicht viel tun. Anderen Soldaten und ihren Vorgesetzen gegenüber wollten sie keine Schwäche zeigen, aber bei mir konnten sie sich aussprechen. Und ich habe versucht zu helfen. Religiöse Probleme waren überhaupt nicht das Hauptanliegen.

Sie sind derzeit beim Truppenübungsplatz Grafenwöhr der US-Streitkräfte in der Oberpfalz stationiert ...
Ich bin der stellvertretende Kaplan der Garnison im Rang eines Oberstleutnants und jetzt mitverantwortlich für das gesamte religiöse Leben von mehreren Tausend US-Soldaten in ganz Bayern. Ich muss sicherstellen, dass es Gottesdienste gibt, dass die Sonntagsschulen für Kinder laufen, dass Erwachsenenbildung stattfindet, dass die Kapellen funktionieren. Das ist ziemlich viel administrative Arbeit, damit alle Soldaten die religiöse Zuwendung erhalten, die sie wünschen – ob Christen, Juden oder Muslime.

Wie viele jüdische US-Soldaten gibt es denn derzeit in Bayern?
Es ist eine kleine Zahl. Aber sobald ein Militärrabbiner in Erscheinung tritt, findet man mehr und mehr. Zu den Gottesdiensten am Freitagabend kommen etwa 15 Soldaten. Manchmal kommen auch pensionierte Soldaten, die in Deutschland geblieben sind, mit ihren Familien.

Am Samstagvormittag gibt es keine Gottesdienste?
Nein. Das habe ich nur einmal geschafft, als ich an der US-Militärakademie in Westpoint stationiert war. Da habe ich übrigens auch ein militärisches Birthright-Programm für jüdische Soldaten organisiert, damit sie Israel besuchen. Bei der US-Armee ist normalerweise samstags Training, da müssen auch die jüdischen Soldaten mitmachen, wenn sie nicht am Wochenende Ausgang haben.

Das heißt, orthodoxe Juden haben in der Armee Probleme, wenn sie am Schabbat keinen Dienst leisten wollen?
Es ist nicht unmöglich, in der Armee den Schabbat zu halten. Ich habe einige orthodoxe Soldaten kennengelernt. Sie haben Schwierigkeiten, aber oft sind die Kommandeure auch bereit, ihren Dienst am Schabbat zu verschieben. Ich muss natürlich sicherstellen, dass diese Soldaten es ernst meinen, oder ob sie nur an einem speziellen Wochentag frei haben wollen. Und damit meine ich nicht nur Juden. Mittlerweile darf man in der US-Armee übrigens auch wieder Bart tragen. Darüber freuen sich nicht nur manche Juden, sondern auch Muslime und Sikhs.

Wie viele jüdische Kaplane gibt es in der US-Armee?
Insgesamt zwölf.

Die Bundeswehr soll in diesem Jahr zehn Militärrabbiner bekommen.
Ja, das hat mich total überrascht. Das wären mehr jüdische Geistliche pro Soldat als in der US-Armee.

Es soll auch einen Militärbundesrabbiner geben. Interessiert Sie der Posten?
Nein, als amerikanischer Soldat kann ich nicht einfach zu einer anderen Armee wechseln. Es ist aber bestimmt eine spannende Position, weil ja alles erst aufgebaut werden muss.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die neuen Militärrabbiner?
Ich denke, es ist ein bisschen ähnlich wie bei uns. Eine große Aufgabe des Rabbiners ist Aufklärungsarbeit. Das mache ich natürlich auch, weil man in der amerikanischen Armee – und der deutschen Armee bestimmt noch viel mehr – mit Leuten zusammenkommt, die noch nie einen Juden gesehen haben, und schon gar keinen Rabbiner. Und da ist der Eindruck sehr entscheidend. Da muss man sich besonders militärisch verhalten.

Es darf nicht passieren, dass die Leute über den Rabbiner lachen, weil er nicht gut angezogen ist oder seine Stiefel nicht geputzt sind.

Was meinen Sie damit?
Es darf nicht passieren, dass die Leute über den Rabbiner lachen, weil er nicht gut angezogen ist oder seine Stiefel nicht geputzt sind. Ein großer Teil unserer Arbeit ist Repräsentation. Das ist genauso wichtig wie die jüdischen Soldaten, die ein Militärrabbiner in der Bundeswehr betreut.

Also, die Uniform muss sitzen und der Bart sollte gepflegt sein.
Genau.

Wie stellen Sie sich Ihre berufliche Zukunft vor?
Bei der US-Armee werde ich noch einige Zeit dienen. Wohin man mich in Zukunft versetzt, kann ich nicht wissen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, anschließend eine Weile in deutschen Gemeinden tätig zu sein.

Mit dem Rabbiner, stellvertretenden Garnisonskaplan und Oberstleutnant der US-Armee in Bayern sprach Ayala Goldmann.

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