Sicherheit

»Ich bin frustriert«

Stephan J. Kramer leitet seit 2015 das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz. Foto: dpa

Herr Kramer, ein Anschlag auf eine Synagoge an Jom Kippur – haben Sie das erwartet?
In der Brutalität und an dem Ort, nein. Aber grundsätzlich war nach Christchurch, Pittsburgh, San Diego ein Anschlag von rechtsextremistischen Terroristen auch in Deutschland durchaus wahrscheinlich.

Haben wir »Vorteile«, weil unser Waffenrecht schärfer ist als in den USA?
Ich warne vor zu großem Optimismus. Es sind genügend illegale Waffen auch bei uns auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Da muss man nicht einmal selbst bauen. Richtig ist, dass wir bisher vor größeren Angriffen wie in den USA oder auch in Frankreich verschont geblieben sind, aber es war und ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Form des Anschlags auch bei uns erfolgt.

Warum war die Synagoge in Halle ausgerechnet an Jom Kippur ohne Polizeischutz?
Wir Sicherheitsbehörden, also sowohl die Polizei als auch der Verfassungsschutz, haben vor einer hohen abstrakten Gefährdung auch in Deutschland gewarnt. Eine konkrete Warnung für einzelne Objekte gab es zumindest nach meinem Kenntnisstand nicht. Richtig ist aber, dass verschiedene Länder diese Sicherheits- und Schutzeinstufungen durchaus unterschiedlich vornehmen.

Gibt es Gottesdienste nur noch mit Polizei?
Das ist durchaus eine plausible Schlussfolgerung. Ob das dann leistbar und personaltechnisch überhaupt möglich ist, ist eine andere Frage – und ob es nur für jüdische Gemeinden gilt, oder auch für Moscheen.

Braucht die Polizei mehr Personal?
Ja, ich begrüße die aktuellen Maßnahmen von BKA und BfV. Eine sichtbare Polizeipräsenz ist aufgrund der Gefährdungslage unabdingbar, selbst wenn keine konkreten Gefahren oder Bedrohungen für ein einzelnes Objekt vorliegen. Die allgemeine Einschätzung der hohen abstrakten Gefährdung, die wir bereits seit Jahren vorgenommen haben, lässt gar keine andere Konsequenz zu. Ob das uns allen guttut, nur noch in die Synagoge zu gehen, wenn davor schwer bewaffnete Schutzkräfte stehen, ist eine andere Frage.

Was kann der Verfassungsschutz tun?
Wir müssen ausgestattet sein, um auf kryptierten Plattformen, Chaträumen, Messengerdiensten auf der Grundlage des G-10-Gesetzes konkret Extremisten zu beobachten. Dazu ist es nötig, dass auch wir Quellentelekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchungen durchführen. Aber allein mit technischen Mitteln werden wir nicht zum Ziel kommen. Denn in Halle haben wir gesehen, dass wir es mit Personen zu tun haben, die sich unter Umständen lange versteckt halten, auch mit Aktivitäten im Netz. Wir brauchen auch ein aufmerksames soziales Umfeld. Es geht nicht darum, Blockwarte zu installieren, sondern zu merken, wenn jemand droht abzurutschen, und die Sicherheitsbehörden aufmerksam zu machen.

Was ist Ihr Rezept für einen kühlen Kopf?
Ich sage ganz offen: Ich mache mir Sorgen, und ich bin frustriert. Ich erinnere mich an die Worte des verstorbenen Zentralratspräsidenten Ignatz Bubis, der 1999 kurz vor seinem Tod in einem Interview sagte: »Ich habe fast nichts erreicht.« Seitdem sind 20 Jahre vergangen. Die Reden, die nach Anschlägen gehalten werden, sind die gleichen. Rechten Terrorismus gab es seit den 50er-Jahren, aber wir haben es jetzt mit einer neuen Gewaltwelle zu tun. Es gibt genügend Gründe, zu fragen: Muss ich mir und meiner Familie das überhaupt noch antun? Aber auch: In welchem Land dieser Erde würde es mir besser gehen? Weglaufen hilft nicht. Wir lassen uns nicht einschüchtern und schon gar nicht vertreiben. Wir haben ein Recht, hier zu sein.

Mit dem Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes sprach Ayala Goldmann.

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