Neuanfang

Goodbye, Abraham!

Der Dialog zwischen Juden und Muslimen kann gelingen, wenn man sich den Herausforderungen des Alltags stellt. Foto: israelimages

Seit dem 11. September 2001 boomt die Dialogindustrie zwischen den Religionen. Oft kommen jüdische und muslimische Vertreter durch christliche Vermittlung zusammen, reden über das gemeinsame Erbe Abrahams und singen Loblieder auf Nathan den Weisen. Die tatsächlichen Probleme werden kaum angesprochen. So kehrt jeder rasch tatenlos in seine Ecke zurück. Und wenn es jemand wagt, in die Tiefe der Problematik vorzustoßen, wird es sofort emotional, und alle reden aneinander vorbei. Der asymmetrische Dialog wird unversehens zu einem Gerichtsverfahren, in dem jede Seite den Finger auf die andere richtet. Der Nahostkonflikt und der krebsartig wuchernde Antise- mitismus in muslimischen Milieus bilden das Haupthindernis für einen fruchtbaren Austausch.

Was den Nahostkonflikt angeht, können wir beobachten, dass besonders unversöhnliche Töne und besonders kompromisslose Haltungen oft aus muslimischen und jüdischen Kreisen in den USA und Europa zu hören sind. Während Israelis und Palästinenser vor Ort miteinander ringen und verhandeln, um praktikable Lösungen zu finden, beschäftigt sich die jüdische und mus- limische Diaspora mehr mit den Fehlern der jeweils anderen Seite. Selbstkritik? Meilenweit entfernt. Warum ist das so?

Emotionalität »Die Diaspora hat ein schlechtes Gewissen. Die Leute sagen: Uns geht’s gut hier. Es steht uns nicht zu, den Menschen in Israel vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Wir sollten sie lieber unterstützen, heißt es oft.« Das antwortete einst Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in Berlin, auf die Frage, warum die Diaspora oft emotionaler und kompromissloser reagiert als die Menschen zu Hause. Auf der einen Seite gibt es Tausende von Palästinensern, die täglich nach Israel einreisen, um dort zu arbeiten. Ein palästinensischer Student, den ich in Deutschland bei einer Tagung traf, nannte sie Kollaborateure und Verräter. Anders als die Menschen im Nahen Osten, die den Konflikt gelegentlich rational und praxisbezogen interpretieren können, neigt die Diasporagemeinschaft also offenkundig häufig dazu, zum gleichen Konflikt in einer praxisfernen Emotionalität Stellung zu beziehen.

Auf der anderen Seite gibt es Juden, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, und Muslime, die aus Selbstreflexion Selbstgeißelung machen. Diese Extremkritiker, die oft nur maskierte Opportunisten sind, werden gerne von der jeweils anderen Seite als Kronzeugen ihrer Sichtweise bejubelt, obwohl sie nichts tun, außer Öl ins Feuer des Konflikts zu gießen. So ist aus dem jüdisch-islamischen Dialog nur allzu selten etwas Positives hervorgegangen.

Vorbild Das Ergebnis der ersten gegenseitigen Befruchtung zwischen beiden Religionen war zum Beispiel die Entstehung der Scharia. Als Mohamed von Mekka nach Medina zog, errichtete er eine Gemeinde nach dem Modell der dort lebenden jüdischen Stämme. Das Wort Scharia ist nichts anderes als die arabische Übersetzung des Begriffes Halacha. Es bedeutet »Weg« oder »gehen«. Wie die Juden begannen die Muslime zu fasten und ihre Gebete geografisch auszurichten. Ebenfalls dem jüdischen Vorbild folgend, verbot Mohamed seinen Anhängern den Verzehr von Schweinefleisch und den Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau während der Menstruation. In Medina entstand eine muslimische Ideologie der Reinheit, die später zum Nachteil der Juden ausgelegt wurde. Denn bald entschied sich der Prophet, Arabien zu säubern. Juden wurden entweder massakriert oder vertrieben. Diese Reinheitslehre verbindet sehr orthodoxe Juden und streng konservative Muslime noch heute weltweit. Eine extreme Ausprägung dieser Haltung lässt sich im lächerlichen Miteinander von Israel hassenden Folklore-Juden und dem antisemitischen iranischen Diktator Ahmadinedschad erkennen.

Nicht nur deshalb ist es wichtig, dass sich der jüdisch-muslimische Dialog vom religiösen Kontext befreit. Er sollte sich endlich von der Legende Abrahams und der Romanze Lessings lösen. Das Gespräch muss sich mehr mit den Herausforderungen des Zusammenlebens zwischen Juden und Muslimen befassen.

Nicht Halacha, sondern Haskala, die Aufklärung, sollte Gegenstand des Dialogs sein. Nicht nach Parallelen zwischen Islamkritik von heute und dem Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist zu suchen, sondern danach, wie Muslime aus der Geschichte der jüdischen Reformation und Emanzipation in Europa lernen können. Und wer schwierige Themen vermeiden will, kann sich über Essen und Sex unterhalten. Dort werden Juden und Muslime vermutlich die meisten Gemeinsamkeiten entdecken.

Der Autor ist deutsch-ägyptischer Schriftsteller und Politikwissenschaftler. Soeben ist von ihm erschienen: »Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose« (Droemer).

Interview

»Die Genozid-Rhetorik hat eine unglaubliche Sprengkraft«

Der Terrorismusforscher Peter Neumann über die Bedrohungslage für Juden nach dem Massaker von Sydney und die potenziellen Auswirkungen extremer Israel-Kritik

von Michael Thaidigsmann  16.12.2025

Wirtschaft

Hightech-Land Israel: Reiche sieht Potenzial für Kooperation

Deutschland hat eine starke Industrie, Israel viele junge Start-ups. Wie lassen sich beide Seiten noch besser zusammenbringen? Darum geht es bei der Reise der Bundeswirtschaftsministerin

 16.12.2025

Meinung

Der Stolz der australischen Juden ist ungebrochen

Der Terroranschlag von Sydney hat die jüdische Gemeinschaft des Landes erschüttert, aber resigniert oder verbittert ist sie nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung künftig mehr für ihren Schutz tut

von Daniel Botmann  16.12.2025

IS-Gruppen

Attentäter von Sydney sollen auf den Philippinen trainiert worden sein

Die Hintergründe

 16.12.2025

Hamburg

Mutmaßlicher Entführer: Mussten im Block-Hotel nichts zahlen

Der israelische Chef einer Sicherheitsfirma, der die Entführung der Block-Kinder organisiert haben soll, sagt im Gericht aus. Die Richterin will wissen: Wer zahlte für die Unterbringung im Luxushotel der Familie?

 16.12.2025

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Anschlag geplant? 21-Jähriger reiste legal ein

Mit einem Visum kam er nach Deutschland, dann informierte er sich über Waffen und glorifizierte Anschläge. Zu dem in Vorbereitungshaft genommenen Mann werden Details bekannt

 16.12.2025

Sydney

Jüdisches Ehepaar stirbt beim Versuch, einen der Angreifer zu stoppen

Boris und Sofia Gurman versuchten, das Massaker vom Bondi Beach zu verhindern, und bezahlten dafür mit ihrem Leben

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025