Geschichte

Gegen alle Widerstände

Am 14. März 1960: Bundeskanzler Adenauer und Israels Premierminister Ben Gurion im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel Foto: ullstein bild - BPA

Kein Dokument symbolisiert die mehr als sieben Jahrzehnte deutsch-israelischer Nachkriegsgeschichte so treffend wie das schlichte Schwarz-Weiß-Foto der ersten Begegnung zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem israelischen Premierminister David Ben Gurion im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel. Adenauer war am 14. März 1960 bereits 84 Jahre alt, sein »jüngerer« israelischer Kollege zählte »erst« 73 Lenze. Sie verstanden sich auf Anhieb.

Adenauer und Ben Gurion hatten genug durchgemacht und wussten, was sie wollten. Sie waren keine gewöhnlichen Politiker, die sich bei ihren Entscheidungen zuvörderst nach Meinungsumfragen richteten, obgleich sich der Bundeskanzler durchaus regelmäßig von Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbacher Institut über die Stimmung der deutschen Bevölkerung unterrichten ließ.

Dem Bundeskanzler war bekannt, dass der überwiegende Teil der Deutschen das sogenannte Wiedergutmachungs-Abkommen ablehnte.

staatsmänner Dem Bundeskanzler war bekannt, dass der überwiegende Teil der Deutschen das sogenannte Wiedergutmachungs-Abkommen, also die Entschädigungszahlungen für geraubtes jüdisches Vermögen und Rentenzahlungen an die Überlebenden, ablehnte. Konrad Adenauer und David Ben Gurion waren Staatsmänner, die die langfristigen Auswirkungen ihres Tuns nie aus den Augen verloren.

In der Alltagspolitik wurde das Entschädigungsabkommen von Adenauers eigener CDU-Fraktion im Bundestag mit breiter Mehrheit verworfen, die Abgeordneten der Schwesterpartei CSU lehnten die Abmachung geschlossen ab, nicht viel anders sah es bei den Freien Demokraten aus. Doch für Adenauer, der durchaus ein knallharter Machtpolitiker sein konnte, war das Entschädigungsabkommen kein taktisches politisches Manöver.

Für den ersten Bundeskanzler war die »Aussöhnung mit dem jüdischen Volk« keine wohlklingende Floskel, die bei Jahrestagen verkündet wurde, sondern es war ihm ein moralisches Anliegen und zugleich strategisches Ziel im langfristigen Interesse Deutschlands.

entschädigungsabkommen Deshalb gab Adenauer, kaum im Amt des Bundeskanzlers, bereits 1949 gegenüber dieser Zeitung seine Absicht bekannt, ein materielles Entschädigungsabkommen mit jüdischen Organisationen und dem ein Jahr zuvor gegründeten Staat Israel abzuschließen. Da dies wie erwähnt von der eigenen Fraktion mit breiter Majorität abgelehnt wurde, zögerte Adenauer nicht, sich in diesem singulären Fall über kleinliche Parteiinteressen hinwegzusetzen und ein Bündnis mit den oppositionellen Sozialdemokraten einzugehen.

Die beiden richteten sich primär nicht nach Meinungsumfragen.

Für deren Vorsitzenden Kurt Schumacher, der die Grausamkeit der Nazis als KZ-Häftling erlitten hatte, war das »Wiedergutmachungs«-Abkommen genauso wie für Adenauer, der ebenfalls vom NS-Regime verfolgt worden war, eine Selbstverständlichkeit.

Schumachers SPD dachte und handelte ebenso. So setzten die gegnerischen Politiker Adenauer und Schumacher die Abmachung von Luxemburg aus dem Jahr 1952 gemeinsam gegen alle Widerstände im Bundestag durch.

legende An dieser Stelle soll auch mit der Legende aufgeräumt werden, Konrad Adenauer habe das »Wiedergutmachungs«-Abkommen lediglich abgeschlossen, um den Wünschen der Vereinigten Staaten zu folgen. Das ist falsch.

Nach dem politisch missglückten Sinai-Feldzug vom Herbst 1956 an der Seite der abgetakelten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich forderte Washington von Bonn, die Entschädigungszahlungen an Israel einzustellen, um so den Druck auf Zion zu erhöhen. Amerikafreund Adenauer lehnte dies ab. Die Leistungen seien eine moralische Verpflichtung. Sie dürften daher nicht gegen Zion eingesetzt werden. Washington respektierte dies.

David Ben Gurion hatte in Israel nicht minder um das Entschädigungsabkommen mit Deutschland zu ringen, als Adenauer es tat. Eher mehr. Denn nicht nur Israels politische Rechte, auch breite Teile der Bevölkerung bekämpften die geplante Abmachung mit Deutschland vehement. Er werde nicht erlauben, dass Israel deutsches »Blutgeld« annehme.

David Ben Gurion hatte in Israel nicht minder um das Entschädigungsabkommen mit Deutschland zu ringen, als Adenauer es tat.

nazismus Das sei ein Verrat an allen Opfern des Nazismus, donnerte Oppositionsführer Menachem Begin. Die meisten Israelis hatten Verständnis für seine Gefühle, auch der junge Reuven Rivlin, heute Israels Staatspräsident. Doch die Realität erheischte eine andere Politik.

Israel war arm und überschuldet. Es hatte mehr als eine Million Einwanderer aus den arabischen Ländern und aus Europa, zumeist Naziopfer, aufgenommen. Zudem rüstete Moskau die Feinde Israels mit modernen Waffen aus. Jerusalem war auf die finanzielle Hilfe und auf die Lieferungen von Rüstungsgütern aus Deutschland angewiesen.

Adenauer war dazu – insgeheim – bereit. Diplomatische Beziehungen zu Jerusalem aber wollte Bonn nicht aufnehmen. Denn die arabischen Staaten drohten der Bundesrepublik für diesen Fall mit der Anerkennung der DDR. So wurde Bonn Opfer seiner Hallstein-Doktrin. Adenauer und Ben Gurion waren sich einig. Der Israeli erklärte, er glaube an das »neue, demokratische Deutschland«, dem Leiter des Kanzleramts und Kommentator der Nazi-Rassengesetze, Hans Globke, zum Trotz.

Das Foto sollte nicht als historische Aufnahme verstauben. Das Vermächtnis von Adenauer und Ben Gurion mahnt eine verantwortungsbewusste Politik an, die sich nicht in großen Worten erschöpft, sondern in praktischer Solidarität ausdrückt. Auch wenn diese nicht immer populär sein mag.

Der Autor ist Publizist und Schriftsteller. Zuletzt von ihm erschienen: »Lauf, Ludwig, lauf!«.

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025

Australien

Behörden entfernen Blumenmeer für die Opfer von Bondi Beach

Die Regierung von New South Wales erklärt, man habe sich vor dem Abtransport der Blumen eng mit der jüdischen Gemeinde abgestimmt

 22.12.2025

Sydney

Attentäter warfen Sprengsätze auf Teilnehmer der Chanukka-Feier

Die mutmaßlichen Attentäter Naveed und Sajid Akram bereiteten sich auf das Massaker vor. Ihre Bomben explodierten nicht

 22.12.2025

New York

Tucker Carlson ist »Antisemit des Jahres«

Die Organisation StopAntisemitism erklärt, ausschlaggebend seien Beiträge, in denen er erklärten Judenhassern, Holocaustleugnern und extremistischen Ideologen eine große Bühne geboten habe

 22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Gaza

Das Problem mit der Entwaffnung

Die Hamas weigert sich strikt, die Waffen niederzulegen. Was Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung findet und den Friedensplan stocken lässt

 21.12.2025 Aktualisiert

Interview

»Die Zustände für Juden sind unhaltbar. Es braucht einen Aufstand der Anständigen«

Zentralratspräsident Josef Schuster über den islamistischen Anschlag von Sydney und das jüdische Leben in Deutschland nach dem 7. Oktober

 21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025