USA

Gebrochene Identität

Im April 2024 dachte sich eine Gruppe von jungen antizionistischen Juden an der University of Southern California ein ganz besonderes Werbekunststück aus. Um gegen Israel zu protestieren, rollten die Mitglieder der »Jew­ish Voice for Peace« eine Art Tischtuch aus, auf dem riesengroß ein Sederteller aufgedruckt war. In der Mitte des Sedertellers ein Kreis: »Stop starving Gaza« stand dort – »Hört auf, Gaza auszuhungern«.

Drumherum waren die traditionellen Bestandteile des Sedertellers aufgelistet: der Lammknochen, das hartgekochte Ei, die Bitterkräuter, … Nur waren diese überlieferten Speisen neu gedeutet worden: Die Bitterkräuter standen also für »Besatzung«, der Charosset stand für »80 Prozent der Häuser zerstört«, das Ei verkörperte gar »Genozid«.

So weit, so böse. Allerdings hatten die jungen Juden die verschiedenen Stationen des Sedertellers auch auf Hebräisch aufgelistet. Und dabei war den wackeren Antizionisten ein kleiner Fehler unterlaufen: Offenbar wussten sie nicht, dass das He­bräische von rechts nach links geschrieben wird. Statt »beizah« stand auf ihrem Sederteller so etwas wie »hazieb«. Statt »charosset« die bislang unbekannte Vokabel »thessorach«. Das Gelächter war groß.

37 Prozent der jungen amerikanischen Juden sympathisieren mit der Hamas.

Die Gruppe entschuldigte sich sogleich für das Versehen, das ihr in der Eile unterlaufen sei, schob der Entschuldigung aber ein trotziges Bekenntnis hinterher: »Als Diasporajuden stammen wir aus vielen verschiedenen jüdischen Erfahrungen und Identitäten«, schrieben sie. »Wir weigern uns, dem Zionismus zu gestatten, die Vielfalt unserer jüdischen Identitäten in sich aufzusaugen, uns etwa glauben zu machen, wir seien nicht jüdisch genug, wenn wir kein Hebräisch lesen oder sprechen. Es gibt endlos viele Arten, jüdisch zu sein.«

Dass man kein Hebräisch sprechen muss, um Jude zu sein, ist natürlich wahr. Die Frage, die in der Erklärung der Antizionisten ausgespart wird, ist jedoch die wesentliche: Wie wenig weiß ein Mensch vom Judentum, dem unbekannt ist, in welche Richtung Hebräisch geschrieben wird? Welches Desinteresse an der Tradi­tion, die man als die eigene reklamiert, zeigt sich da? Sollte man nicht eigentlich schon von Verachtung sprechen?

Die Krönung des Ganzen war, dass die Mitglieder der »Jewish Voice for Peace« eine Packung von Mazzen auf ihrem gedruckten Sederteller platzierte, die sie preisgünstig bei einer populären amerikanischen Supermarktkette erstanden hatte. Gefertigt worden waren jene Mazzen … in Israel.

Drückt sich hier ein tieferes Problem aus? Das muss man wohl so sehen: Laut einer Studie von Pew Research aus dem Jahr 2021 identifizieren sich immer weniger amerikanische Juden aus der Alterskohorte der 18- bis 29-Jährigen mit der jüdischen Religion. 2013 sagte noch ein Drittel (32 Prozent), sie hätten nichts mit der jüdischen Religion am Hut; 2021 waren daraus schon 41 Prozent geworden. Anno 2013 erzählten 73 Prozent, sie hätten in letzter Zeit an einem Seder teilgenommen. 2020 waren es dann nur noch 59 Prozent. Das Einzige, was unterdessen rapide nach oben schnellt, ist die Zahl jener amerikanischen Juden, die Nichtjuden heiraten: 45 Prozent waren es zwischen 2000 und 2009, im darauffolgenden Jahrzehnt bereits 61 Prozent.

Schockierend sind die Zahlen, wenn man junge amerikanische Juden über ihr Verhältnis zu Israel befragt. Das israelische Diasporaministerium gibt bekannt: 37 Prozent der jungen amerikanischen Juden sympathisieren mit der Hamas – einer Organisation, die sich den Judenmord auf die Fahnen geschrieben hat. (Als »jung« gelten hier Teenager: Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren.)

Die gute Nachricht ist vielleicht, dass sich die Sympathie für die Hamas mit zunehmendem Alter quasi auswächst: Bei den 14-Jährigen waren noch 60 Prozent für die Terrororganisation, bei den 18-Jährigen nur noch zehn Prozent.

Leider wird diese gute Nachricht durch eine frappierend schlechte Nachricht aufgewogen. Die Zahlen des israelischen Diasporaministeriums stammen allesamt aus der Zeit zwischen dem 16. und dem 23. Juli 2024; der 7. Oktober mit seinen Entsetzlichkeiten war also schon geschehen, die Mehrzahl der israelischen Geiseln wurde noch in den Tunneln festgehalten.

Am verblüffendsten: Die Zahlen des Diasporaministeriums stammen von einer repräsentativen Gruppe von 662 jüdischen Teenagern. Und 80 Prozent von ihnen hatten Israel schon einmal besucht! Was geht hier vor? Warum ticken junge amerikanische Juden so anders als junge Juden in Frankreich, Deutschland, Großbritannien?

Ein Unterschied ist, dass amerikanische Juden bis vor Kurzem das Glück hatten, mit vergleichsweise wenig Antisemitismus konfrontiert zu sein. Zwar ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe im vergangenen Jahrzehnt explodiert, aber davor lebten Amerikas Juden in dem beruhigenden Bewusstsein, dass sie zum amerikanischen Mainstream gehörten. Szenen wie jene, die sich nach dem 7. Oktober 2023 an amerikanischen Universitäten abspielten, wären noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen.

Insbesondere haben jüdische Amerikaner kaum Erfahrungen mit muslimischem Antisemitismus. Das liegt vor allem daran, dass es in Amerika so wenige Muslime gibt – geschätzt 1,1 Prozent der Bevölkerung, viel weniger als Juden. Außerdem stammen die meisten amerikanischen Muslime gar nicht aus dem Nahen Osten, sondern aus Südostasien.

Ein zweiter Unterschied: Viele jüdische Familien in den Vereinigten Staaten waren vom deutschen Völkermord nur indirekt betroffen. Die größte Einwanderungswelle hatte bereits zwischen 1880 und 1914 stattgefunden, als rund zwei Millionen Juden aus Osteuropa in die »Goldene Medine« zogen – jenes verheißene Land, in dem sich Geld leichter verdienen ließ als in der alten Heimat. Anders als in Europa wuchsen viele amerikanische Juden daher nicht in Familien auf, in denen die Großeltern, Onkel und Tanten fehlten, weil sie ermordet worden waren. Sie blättern nicht in Alben voller Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen Dutzende von lächelnden Menschen zu sehen sind – von denen am Ende nur zwei oder drei überlebten. Sie stellen sich nicht die Frage: Wie viele meiner Angehörigen könnten heute noch am Leben sein, wenn der Staat Israel nur zehn Jahre früher gegründet worden wäre?

Drittens: Junge amerikanische Juden sind nicht mit einem Israel aufgewachsen, das in seiner Existenz bedroht war und von Selbstmordattentätern gefährdet wurde. Sie haben lediglich Erinnerungen an einen jüdischen Staat, der sich, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, zu einer regionalen Supermacht gemausert hatte – wirtschaftlich und militärisch stark und isoliert von seinen Nachbarn. Die Jungen können sich an keinen anderen Ministerpräsidenten erinnern als an Benjamin Netanjahu.

Jüdische Amerikaner haben kaum Erfahrungen mit muslimischem Antisemitismus.

Der Friedensprozess von Oslo und die Gründe für sein Scheitern liegen für jemanden, der heute 20 Jahre alt ist, in tiefster, dunkelster Vergangenheit. So tut sich ein Graben zwischen den Generationen auf: Wenige Wochen nach dem Beginn des Gazakriegs fand das »Jewish Electoral Institute« heraus, dass 82 Prozent jener jüdischen Amerikaner, die 36 Jahre oder älter waren, gut fanden, dass der damalige Präsident Biden Israel unterstützte; aber nur eine gute Hälfte der 18- bis 35-Jährigen war derselben Ansicht.

Dass immer weniger junge Juden sich mit dem jüdischen Volk und der jüdischen Religion identifizieren, ist Teil eines größeren Trends: Auch die christliche Religiosität ist in dem Vierteljahrhundert zwischen 2000 und 2025 zusammengebrochen. Der verbliebene evangelikale Rest hat sich immer mehr radikalisiert. Auch hier gibt es eine jüdische Parallele: Die einzigen amerikanischen Juden, die nicht vom Verfallsprozess erfasst wurden, sind die Orthodoxen in all ihren Schattierungen, von den »modern Orthodoxen« bis hin zu den Charedim.

Die Probe aufs Exempel wird Anfang November in New York gemacht werden. Dann tritt bei der Bürgermeisterwahl für die Demokraten der linksradikale Zohran Mamdani an, ein muslimischer Antizionist, der sich zu dem Slogan »Globalisiert die Intifada« bekannt hat. (In einem Podcast-Interview versuchte er, dies mit dem Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto auf Arabisch ebenfalls mit dem Wort »Intifada« beschrieben wird. Warum das beruhigend sein soll, hat er nicht gesagt.) Niemand soll sich wundern, wenn Mamdani im November auch mit den Stimmen junger New Yorker Juden gewählt wird.

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