Erinnerung

Falsche Priorität

Rückt die Aufarbeitung des SED-Unrechts in den Vordergrund? Gedenken an die Maueropfer an der Bernauer Straße in Berlin Foto: dpa

Wer nach der Zukunftstauglichkeit der neuen Bundesregierung fragt, sollte bei ihren Bekenntnissen zur Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte beginnen. Zuletzt galt die unbedingte Erinnerung an die Opfer des Holocaust als Teil der Staatsräson. Nun haben sich CDU, CSU und SPD offenbar auf ein Primat der Aufarbeitung des SED-Unrechts geeinigt: Im Koalitionsvertrag spielt die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen keine besondere Rolle mehr.

Zwar soll die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2009 weiterentwickelt werden, doch benannt sind nur Orte der DDR- und Nachkriegsgeschichte: der Jugendwerkhof Torgau, das Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg und das Berliner Alliierten-Museum. Für die NS-Zeit findet sich nur das Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Schon jetzt fördert der Bund entgegen dem Geist der Gedenkstättenkonzeption Dokumentationsstätten an reinen Täterorten auf Kosten der Gedenkstätten an den Tatorten mit Großbeträgen.

fehlanzeige Und die Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus? Fehlanzeige. Offenbar herrscht bei der neuen Regierung der Eindruck, hier genug getan zu haben. Doch ist noch längst nicht so viel erreicht worden, als dass die aus dem In- und Ausland viel besuchten KZ-Gedenkstätten nicht mehr der besonderen Aufmerksamkeit des Bundes bedürften.

Stattdessen soll noch mehr für die Aufarbeitung des SED-Unrechts getan werden. Das an sich wäre nicht unredlich, ginge es nicht zulasten der Erinnerung an den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch. Wieso muss die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur noch weiter »finanziell stabilisiert« werden, während die weiterhin große Lücken aufweisende Forschung zu den nationalsozialistischen Verbrechen nicht einmal erwähnt wird? Die begrüßenswerte Absicht, die Provenienzforschung zu Kulturgut und Bibliotheksbeständen der NS-Zeit zu fördern, erscheint da nur als Alibi.

entschädigung Auch für die Überlebenden der NS-Verbrechen sieht die Koalitionsvereinbarung nichts vor. Selbst die wichtige Initiative der SPD-Fraktion aus dem vorigen Bundestag, doch noch eine Entschädigung für die bislang von allen Leistungen ausgeschlossenen sowjetischen Kriegsgefangenen zu ermöglichen, hat keinen Eingang gefunden. Wohl aber sollen die Entschädigungssätze für Opfer des SED-Unrechts angehoben werden.

Hier wird ein geschichtspolitischer Paradigmenwechsel vollzogen. War in der bisherigen Gedenkstättenkonzeption die Vermengung von NS-Verbrechen und SED-Unrecht mühsam vermieden worden, droht nun deren Gleichsetzung. Sprachlich ist die Wende hin zu einem totalitaristischen Erinnerungsprimat unverkennbar. Begriffe wie »NS-Terrorherrschaft« und »Stalinismus« oder die Formel von den »beiden deutschen Diktaturen« sind wohl mehr als semantische Zufälle. Auch das eigens erwähnte europäische Netzwerk »Erinnerung und Solidarität« zielt auf eine Gleichsetzung der Diktaturen.

relativierung Gegen die vielfache Warnung der Überlebenden des Holocaust vor »bedenklichen Formen historischer Relativierung« will sich die neue Bundesregierung offenbar auch der Forderung des EU-Parlaments anschließen, den 23. August als Leitdatum der europäischen Erinnerungskultur zu etablieren. Der Bundestag folgte bereits im vergangenen Jahr der Straßburger Entschließung, wonach der Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts als europaweiter Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime begangen wird. Soll dieses Datum die Erinnerung an den 30. Januar 1933 oder den 27. Januar 1945 überlagern? Damit würde das gerade erst etablierte Holocaust-Gedenken in die zweite Reihe der deutschen Geschichtspolitik gerückt.

Mit ihrer Koalitionsvereinbarung verweisen die großen Volksparteien die Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen ins Museale. Sie wird auf das politische Abstellgleis bürokratischer Verteilungskämpfe um knapper werdende Ressourcen gestellt, abgehängt und ohne Chance, sich auf einen konkreten Willen der neuen Regierung berufen zu können, hier weiterhin aktiv Sorge und Vorsorge zu tragen. Die vielfältigen Impulse dieser KZ-Gedenkstätten für das demokratische und humanitäre Bewusstsein in Deutschland, die aufgrund vieler internationaler Kooperationen weit darüber hinausreichen, sind vom politischen Horizont der Regierung verschwunden.

Das seit Langem mit großer Sorge betrachtete Ende der Zeitzeugen der nationalsozialistischen Verbrechen ist in der Koalitionsvereinbarung bereits erreicht. Die Repräsentanten der Überlebenden hatten 2009 in ihrem Berliner Vermächtnis noch ihr »Vertrauen in die Zukunft« auch gegenüber der deutschen Politik bekundet. Folgt die neue Regierung ihrem Koalitionsvertrag, nimmt sie in Kauf, dieses unter großen Anstrengungen gewachsene Vertrauen zu zerstören. Das ist nicht zukunftsfähig.

Der Autor ist Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Hanau

Antisemitisches Plakat an Schule: Staatsschutz ermittelt

In einem angrenzenden Park gab es eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde. Besteht ein Zusammenhang?

 30.04.2025

Jom Hasikaron

Israel gedenkt der Terroropfer und Kriegstoten

Seit dem 7. Oktober 2023 sind 850 israelische Soldaten und 82 Sicherheitskräfte getötet worden

 30.04.2025

Josef Schuster

»Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland?«

In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen reflektiert der Zentralratspräsident die Herausforderungen und Gefahren, vor denen die Erinnerung an die Schoa heute steht. Eine Dokumentation

von Josef Schuster  29.04.2025

Mauthausen

Überlebenswunderkind Eva Clarke: Geburt im KZ vor 80 Jahren

Es war eines der größten und gefürchtetsten Konzentrationslager der Nazizeit. Im Mai 1945 wurde es von US-Soldaten befreit. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihr Neugeborenes

von Albert Otti  29.04.2025

Umfrage

Mehrheit hält AfD wegen deutscher Geschichte für unwählbar

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes fragt die »Memo«-Studie Menschen in Deutschland nach dem Blick zurück

 29.04.2025

Potsdam

Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert besseren Schutz für Synagoge

Vermutlich wurde in Halle ein zweiter Anschlag auf die Synagoge verhindert. Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert deshalb dazu auf, auch die Potsdamer Synagoge besser zu schützen

 29.04.2025

Menschenrechte

Immer schriller: Amnesty zeigt erneut mit dem Finger auf Israel

Im neuesten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation wirft sie Israel vor, einen »live übertragenen Völkermord« zu begehen

von Michael Thaidigsmann  29.04.2025

Berlin

Streit um geforderte Yad-Vashem-Straße

Zwischen dem Freundeskreis Yad Vashem und dem Roten Rathaus herrscht Unmut

von Imanuel Marcus  29.04.2025

Den Haag

Strafgerichtshof verpflichtet Chefankläger zur Vertraulichkeit

Karim Khan, der unter anderem gegen Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl erwirkt hat, darf einem Bericht des »Guardian« zufolge künftig nicht mehr öffentlich dazu Stellung nehmen

 29.04.2025