Jom Haazmaut

Ein Geschenk für Israel

Anfang Mai 2016. Noemi Schlosser und ein paar ihrer Nachbarn aus Tel Aviv sind zu Gast bei einer alten Wiener Dame. Nachdem sie Tee und Plätzchen serviert hat, beginnt die Frau von der Zeit unter dem Nazi-Regime und ihrer Haft im KZ zu berichten. Es ist Jom Haschoa, Holocaust-Gedenktag.

An diesem Tag werden in Israel die Flaggen auf Halbmast gesetzt, um der Opfer der Schoa zu gedenken und die Geschichten der Überlebenden zu hören. »Oft enden diese Geschichten mit der Befreiung aus den Lagern oder der Ankunft in Israel – aber nicht diese«, sagt Schlosser. »Der Frau war es wichtig, daran zu erinnern, wie schwer es damals war, mit nichts hier anzukommen.« Damals, das ist die Zeit vor 1948, vor der Unabhängigkeit Israels vom britischen Mandat. Vor allem die vielen Neuankömmlinge aus Europa stießen zunächst auf Probleme kultureller und vor allem finanzieller Natur.

milchmann Die Dame aus Wien erzählt, wie ihre Mutter sie bat, dem Milchmann auszurichten, er brauche nicht mehr vorbeizukommen – sie trinke ihren Kaffee sowieso am liebsten schwarz. In Wahrheit liebte sie den kleinen Schuss Milch, doch keiner sollte wissen, dass dafür das Geld nicht reichte.

Und dann war da der stattliche Mann, auf den die Frauen sie bei einem Spaziergang hinwiesen: »Gut ausschauen tut er ja, aber leider ist er dumm und taub.« Von ihrer Mutter wusste sie, dass weder das eine noch das andere zutraf: In Deutschland war er einst Arzt gewesen; seelisch schwer gezeichnet und des Hebräischen nicht mächtig, fegte er nun die Straßen Tel Avivs.

Die Gesprächsrunde elektrisiert Schlosser: »Mir wurde plötzlich bewusst, dass das eine einmalige Chance ist, Menschen zu interviewen, die die Nacht der Teilung Palästinas oder die Unabhängigkeitserklärung im Mai 1948 erlebt haben.«

idee Sie wollte sichergehen, sagt sie, dass diese Lebensgeschichten nicht in Vergessenheit geraten. Zunächst überlegte die gelernte Theater- und Opernregisseurin, die Geschichten in einem Bühnenstück zu verarbeiten.

Aber die Ungewissheiten waren zu groß: Wie lange würde es dauern, bis das Stück fertig wäre? Stimmt das Format? Wie viele dieser Menschen würden bis dahin noch am Leben sein? »Mir war von Anfang an klar, dass die Zeit zu knapp war, um all die logistischen Probleme zu lösen. Ich sagte mir: Entweder beginne ich sofort, oder ich lasse es bleiben.«

Denn die Jugend von 1948, das sind heute Leute von weit über 80 oder 90 Jahren, einige sind sogar mehr als 100 Jahre alt. Die Regisseurin musste den Aufnahmeknopf drücken, bevor es zu spät sein würde. Letztlich entschied sie sich für das Format eines Dokumentarfilms. Über Facebook machte sie sich auf die Suche nach Protagonisten – nach und nach erhält sie nun Einladungen zu Gesprächen, »meistens von den Enkeln«.

biografien Schlosser packte einen 17 Kilogramm schweren Rucksack mit geliehenem Aufnahme-Equipment und machte sich auf den Weg. Ohne Führerschein reist die 38-Jährige mittlerweile seit Monaten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kreuz und quer durch Israel – »bei Weitem der anstrengendste Teil des Projekts«, scherzt sie. Trotz der Mühen, die ihr die Reisen abfordern, möchte sie so viele Gespräche wie möglich führen.

Beim Betrachten der schon aufgenommenen Videos wird deutlich, welch rastlose Biografien heute hinter den jungen Menschen aus Israels frühen Tagen liegen: Da ist zum Beispiel die heute 100-jährige Ruth Dayan, die als Ehefrau des legendären Generals Moshe Dayan den Aufstieg Israels an vorderster Front miterlebte – und dabei selbst eine beeindruckende Karriere von der Kibbuznikit zur Modedesignerin machte.

Oder Rafi Eitan, der Politiker und Geheimdienstmann, der als junger Mann für die militärische Eliteeinheit Palmach im Untergrund tätig war und später Adolf Eichmann in Buenos Aires verhaften sollte. Auch sprach Schlosser mit Avi Primor, dem früheren Botschafter Israels in Deutschland, sowie mit dem israelischen Nuklearforscher Amos Horev.

drusen Allerdings dürfen nicht nur Prominente Geschichten erzählen. Vor allem sollen auch solche Menschen Platz in dem Projekt finden, deren Stimmen bislang ungehört geblieben sind, oder jene, die damals noch kleine Kinder waren. Auch Minderheiten wie etwa Christen, Beduinen oder Drusen, von denen heute in Israel rund 140.000 leben, erhalten durch das Projekt eine Stimme.

Doch obwohl Schlosser so viele Protagonisten wie möglich sucht, steht eines für sie fest: Auf die arabische Seite wird sie nicht reisen. Dennoch will sie sich nicht vorwerfen lassen, »rechts oder nationalistisch« zu sein. Vielmehr sieht sie sich in dieser Frage mit »dramaturgischen Schwierigkeiten« konfrontiert.

»Ich kann die Geschichten der anderen Seite einfach nicht so gut erzählen, wie es vielleicht jemand anderes könnte«, sagt die Regisseurin. Auf Nachfrage wird aber klar, dass es dabei auch um ihre eigene Sicherheit geht. Als jüdische Dokumentarfilmerin fühlt sie sich auf der arabischen Seite »nicht sonderlich gut aufgehoben«.

porträts Sobald Noemi Schlosser alle Interviews geführt und geschnitten und den Film fertiggestellt hat, wird die New Yorker Fotografin Aviva Klein Porträts der Gesprächspartner aufnehmen – so der Plan. Diese sollen in einer Ausstellung neben Aufnahmen aus den Jugendtagen der Protagonisten und dem laufenden Dokumentarfilm gezeigt werden.

Für ihr Herzensprojekt verzichtet Schlosser auf vieles: Essen, Zeit mit der Familie, Geld. Ihre gesamten Ersparnisse stecken inzwischen in dem Projekt. Eine Festanstellung hat sie derzeit nicht. Stattdessen filmt sie, führt Interviews, schneidet das Videomaterial, kümmert sich um Übersetzungen, die Website und die Facebook-Seite.

»Es ist sehr anstrengend, aber aufgeben kommt für mich nicht infrage«, sagt die Regisseurin. Es sei ihre Verantwortung gegenüber der kommenden Generation, diesen Teil der Geschichte so gut wie möglich festzuhalten. Und dann fügt sie hinzu: »Es mag seltsam klingen, aber es ist für mich auch eine Art Geschenk zurück an Israel.«

Und so ist es wohl auch, denn nach Abschluss der Aufnahmen plant Schlosser, das gesamte Material an das Staatsarchiv Israel zu stiften – wenn es klappt, nächstes Jahr: pünktlich zum 70. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung.

www.theyouthof1948project.com

Jom Hasikaron

Israel gedenkt der Terroropfer und Kriegstoten

Seit dem 7. Oktober 2023 sind 850 israelische Soldaten und 82 Sicherheitskräfte getötet worden

 30.04.2025

Josef Schuster

»Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland?«

In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen reflektiert der Zentralratspräsident die Herausforderungen und Gefahren, vor denen die Erinnerung an die Schoa heute steht. Eine Dokumentation

von Josef Schuster  29.04.2025

Mauthausen

Überlebenswunderkind Eva Clarke: Geburt im KZ vor 80 Jahren

Es war eines der größten und gefürchtetsten Konzentrationslager der Nazizeit. Im Mai 1945 wurde es von US-Soldaten befreit. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihr Neugeborenes

von Albert Otti  29.04.2025

Umfrage

Mehrheit hält AfD wegen deutscher Geschichte für unwählbar

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes fragt die »Memo«-Studie Menschen in Deutschland nach dem Blick zurück

 29.04.2025

Potsdam

Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert besseren Schutz für Synagoge

Vermutlich wurde in Halle ein zweiter Anschlag auf die Synagoge verhindert. Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert deshalb dazu auf, auch die Potsdamer Synagoge besser zu schützen

 29.04.2025

Menschenrechte

Immer schriller: Amnesty zeigt erneut mit dem Finger auf Israel

Im neuesten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation wirft sie Israel vor, einen »live übertragenen Völkermord« zu begehen

von Michael Thaidigsmann  29.04.2025

Berlin

Streit um geforderte Yad-Vashem-Straße

Zwischen dem Freundeskreis Yad Vashem und dem Roten Rathaus herrscht Unmut

von Imanuel Marcus  29.04.2025

Den Haag

Strafgerichtshof verpflichtet Chefankläger zur Vertraulichkeit

Karim Khan, der unter anderem gegen Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl erwirkt hat, darf einem Bericht des »Guardian« zufolge künftig nicht mehr öffentlich dazu Stellung nehmen

 29.04.2025

Urteil

»Impfen macht frei«-Bild ist Volksverhetzung

Ein 65-Jähriger hatte während der Corona-Pandemie die Schutzmaßnahmen der Regierung mit dem Holocaust verglichen

 29.04.2025