Geiseln

Die Seele Israels

»Ganz Israel ist füreinander verantwortlich«: Für die Israelis ist es ein moralischer Imperativ, niemanden aufzugeben. Foto: Flash 90

Versuchen Sie es sich vorzustellen. Vielleicht nur eine Minute lang. Ihre Tochter, Ihr Sohn, Ehemann, Bruder oder Ihre Schwester ist in der Gewalt einer gnadenlosen Terrororganisation und befindet sich in einem endlosen dunklen Tunnel. Oder womöglich in einem Käfig. Kein Mensch will sich so etwas ausmalen. Doch die Angehörigen der israelischen Geiseln in Gaza bitten genau darum. Aus Solidarität, aus Empathie, aus Menschlichkeit. Denn seit über zehn Monaten haben sie kein Lebenszeichen mehr erhalten. Als sie das letzte Mal die Stimmen ihrer Liebsten hörten, waren diese in Panik, wurden von blutrünstigen Hamas-Killern gejagt.

Plötzlich ist er oder sie nur noch auf einem Plakat zu sehen. Und dieses hängt auf der ganzen Welt. In Israel begleiten die Porträts der Geiseln seither den Alltag, schauen von Hauswänden, Bussen oder sind am Flughafen zu sehen. »Was ist mit mir?«, scheinen die Augen zu fragen. »Warum holt ihr mich nicht nach Hause?« Manchmal bleiben die Vorbeilaufenden stehen, schauen die Bilder genauer an, fragen sich: »Was macht diese Frau, dieser Mann in diesem Moment in Gaza durch?«

»Wer sind wir als Gesellschaft, wenn wir nicht alles tun, um jede einzelne Geisel nach Hause zu bringen?«

Romi Gonen beispielsweise. Die junge Frau hatte das Nova-Musikfestival besucht, um mit Freunden zu tanzen. Sie ist ein fröhlicher Mensch. Auf dem Foto von ihrem 23. Geburtstag strahlt sie vor einem selbst gebackenen Kuchen. Sie lache immerzu, sagt Yarden Gonen über ihre geliebte jüngere Schwester. Bis zu dem Schwarzen Schabbat. Zwei ihrer besten Freunde wurden im Auto neben ihr erschossen, als sie versuchten, vor den mordenden und vergewaltigenden Horden der Hamas zu fliehen. Romi überlebte das Massaker. Doch Romi lacht nicht mehr. Am vergangenen Sonntag wurde sie in Gaza 24 Jahre alt.

»Wer sind wir als Gesellschaft, wenn wir nicht alles tun, um jede einzelne Geisel nach Hause zu bringen? Wir dürfen diese Chance nicht verpassen«, fleht Yarden Gonen. Viele der Angehörigen sehen die aktuelle Verhandlungsrunde als letzte Möglichkeit, alle noch Lebenden aus der Gewalt der Hamas herauszuholen.

Zwei Drittel der Israelis sprechen sich für einen Deal aus

Und die Zeit drängt, wie die sechs toten Geiseln, die Israel Anfang dieser Woche in Gaza geborgen hat, einmal mehr auf so traurige Weise beweisen. Am Dienstag nun stimmte Jerusalem dem jüngsten Vorschlag eines von den USA vermittelten Abkommens für einen Waffenstillstand und die Geiselbefreiung zu. Hamas-Chef Yahya Sinwar aber lehnte das Angebot ab. Wieder einmal. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Die Bilder der unschuldigen Zivilisten – Männer, Frauen, Alte, Kranke, Kinder, die aus ihren Häusern gezerrt wurden – wiegen schwer auf der Seele aller Israelis. So hält die Hamas nicht nur die verschleppten Menschen, sondern mit ihnen die gesamte Bevölkerung in psychischer Geiselhaft, quält sie mit ihrem andauerndem Terror.

»Wir lassen niemanden zurück«, lautet der Satz, den jeder Soldat und jede Soldatin in Israel mit auf den Weg bekommt. Einer der obersten Grundsätze der israelischen Armee (IDF) ist es, keinen Soldaten hinter den feindlichen Linien aufzugeben. Nach diesem Prinzip werden die waghalsigsten Operationen unternommen, um Verwundete zu retten. Doch es ist mehr als nur ein Versprechen. Es ist ein moralischer Imperativ, alles zu tun, damit die Geiseln freikommen. Die Unterstützung für eine Vereinbarung mit der Hamas ist den Entscheidungsträgern dabei sicher. Die Mehrheit der Israelis, in aktuellen Umfragen sind es zwei Drittel der Bevölkerung, spricht sich für einen Deal aus.

»Ganz Israel ist füreinander verantwortlich.«

Ein alter jüdischer Grundsatz lautet »Kol Jisrael arevim se le se«, auf Deutsch: »Ganz Israel ist füreinander verantwortlich.« Unabhängig vom religiösen Kontext bringen diese Worte die Verpflichtung der jüdischen und israelischen Nation auf den Punkt, Brüder und Schwestern in Not nicht zurückzulassen.

Dass diese Menschen ihrem Schicksal überlassen werden, ist nach Überzeugung ihrer Angehörigen und mit ihnen der Mehrheit der Israelis wie ein Verrat innerhalb der Familie. Auch wenn es in dieser in jüngster Zeit viel Streit gab, ist das Bild von der israelischen Gesellschaft als Großfamilie weiterhin Teil des jüdischen Selbstverständnisses. Die Vernachlässigung der Geiseln gleicht daher auch einem Bruch mit diesem Grundprinzip und all dem, was die Stärke Israels ausmacht.

Niemand wird nach vorn schauen können, wenn Töchter, Söhne, Mütter, Väter, Brüder und Schwestern weiterhin in der Hölle von Gaza bleiben. Doch ein optimistischer Blick in die Zukunft ohne schwarze Schatten, die über allem hängen, ist für die Existenz des Landes von entscheidender Bedeutung, sowohl moralisch als auch strategisch. Während das Leid der Geiseln mit jedem Tag wächst, scheint es nach zehn Monaten oft so, als ob ihr Wert als Menschen fast schon in Vergessenheit geraten ist. Doch die Verantwortlichen in Israel dürfen keine weitere Sünde hinzufügen. Der Freilassung der Geiseln oberste Priorität beizumessen, ist nicht nur menschlich, sondern rettet zudem das unsichtbare Band, das die Nation zusammenhält.

Erst wenn dieses Drama vorbei ist und alle Entführten wieder zu Hause sind, kann die Heilung der Gesellschaft nach dem Trauma des 7. Oktober beginnen. Man braucht keine Übereinkunft mehr, wenn alle Geiseln tot sind. Es braucht jetzt einen Deal. In erster Linie für die Menschen, deren Leben damit gerettet wird. Doch auch für alle anderen Israelis, die dann endlich wieder Licht am Ende des Tunnels sehen.

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Dortmund

Ermittlungen gegen Wachmann von NS-Gefangenenlager 

Die Polizei ermittelt gegen einen Ex-Wachmann des früheren NS-Kriegsgefangenenlagers in Hemer. Er soll an Tötungen beteiligt gewesen sein - und ist laut »Bild« inzwischen 100 Jahre alt

 22.11.2025

Deutschland

»Völlige Schamlosigkeit«: Zentralrat der Juden kritisiert AfD-Spitzenkandidat für NS-Verharmlosung

Der AfD-Spitzenkandidat aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, äußert sich einschlägig in einem Podcast zur NS-Zeit

von Verena Schmitt-Roschmann  21.11.2025

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025