Berlin

Der falsche Konsens

Mitte September dieses Jahres veröffentlichte eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats ihren Bericht, demzufolge Israel im Gazastreifen einen Völkermord begehe. Zudem läuft ein Völkermordverfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Und nicht zuletzt wird der Genozid-Vorwurf bei sogenannten propalästinensischen Protesten immer wieder laut.

Zwei Wochen vor dem Bericht der UN-Untersuchungskommission hat ein Team des Begin-Sadat Center for Strategic Studies (BESA) an der Bar Ilan Universität eine knapp 300 Seiten umfassende Studie veröffentlicht. Deren Titel lautet: »Die Entlarvung der Völkermordvorwürfe: Eine Neubetrachtung des Krieges zwischen Israel und der Hamas«.

Mitautor war der israelische Militärhistoriker Danny Orbach, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Am Mittwoch stellte er die Studie im Deutschen Bundestag in Berlin vor. Vor dem Termin mit den Parlamentariern präsentierte Orbach seine aktuellen Erkenntnisse bei einem von der Europe Israel Press Association (EIPA) organisierten Pressegespräch.

Auf verzerrte Weise

Dabei machte der Militärhistoriker deutlich, dass die Vorwürfe des Völkermords »ein Fall eines falschen Konsenses« seien, »der durch eine Verbindung von Wissenschaftlern, Medien, Aktivisten und Organisationen der Vereinten Nationen geschaffen wurde«. Informationen würden auf verzerrte Weise fließen und so eine Echokammer schaffen, »in der falsche Daten vervielfältigt und in den Medien und in der Wissenschaft wiederholt werden«.

Orbach verdeutlichte dies am Beispiel des Vorwurfs, Israel habe Aushungerung als Kriegswaffe in Gaza eingesetzt. Er erläuterte, dass in diesem Zusammenhang immer wieder behauptet werde, dass vor dem Krieg täglich etwa 500 Lkw mit Lebensmitteln nach Gaza gelangt seien. Doch diese Zahl sei falsch, so Orbach. Die richtige Zahl laute entsprechend UN-Daten von 2022: 73 Lkw mit Lebensmitteln pro Tag. Fakt sei, dass Israel also während des Krieges mehr Lebensmittelin den Gazastreifen gelassen habe, als vor dem Krieg – nämlich 82 bis 109 Lkw-Ladungen täglich.

Die Basisannahme der »Hungersnot« beruhe also auf einer falschen Ausgangszahl. Doch viele Institutionen, vom Welternährungsprogramm der UN über NGOs wie Amnesty International bis zu verschiedenen Medien, hätten die falsche Zahl ungeprüft weiterverbreitet. Selbst die Berechnungen des Internationalen Gerichtshofs seien darauf aufgebaut. »Von einer Politik der Aushungerung zu sprechen, ist sachlich nicht haltbar«, zitierte Orbach die Studie.

BBC und »The Guardian« verbreiteten Behauptungen über sterbende Babys

Dabei räumte Orbach ein, dass es eine Nahrungsmittelkrise in Gaza gegeben hat. »Das mag aufgrund von Unzulänglichkeiten geschehen sein, aufgrund von Plünderungen durch die Hamas, aufgrund von Hamsterkäufen. Ich bezweifle nicht, dass die Menschen gelitten haben.« Gleichwohl seien Aussagen, wie die des UN-Generalsekretärs António Guterres über eine beispiellose Hungerkatastrophe »absolut falsch« gewesen.

Genauso falsch seien Aussagen des damaligen UN-Diplomaten Tom Fletcher gewesen, der im Mai dieses Jahres behauptete, dass in Gaza 14.000 Babys innerhalb von 48 Stunden sterben würden, sollten die Hilfslieferungen die Enklave nicht rechtzeitig erreichen. Diese Meldung wurde von vielen Medien wie BBC und »The Guardian« weltweit verbreitet. Eine Richtigstellung machte dann keine Schlagzeilen mehr.

Orbach betonte, dass die israelische Regierung scharf dafür zu kritisieren sei, dass sie im März dieses Jahres vorübergehend die Hilfslieferungen eingestellt habe. Doch die Absicht sei nie gewesen, Menschen hungern zu lassen. Es sei darum gegangen, die Aggression der Hamas zu verhindern.

Nicht haltbar

Und er machte gleichzeitig deutlich: »Niemand sonst hat so viel Hilfe geleistet, wie Israel.« Als Militärhistoriker wisse er, dass Israel die einzige Macht sei, die ein Feindgebiet in einem Krieg mit so großen Mengen Lebensmitteln versorgt oder zumindest die Versorgung durch Dritte erleichtert habe. »Zusammenfassend glauben wir also, dass die Vorwürfe der absichtlichen Aushungerung nicht mit den Tatsachen vor Ort übereinstimmen«, so Orbach.

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Auch würden andere Anschuldigungen nicht den Tatsachen entsprechen, wie beispielsweise, dass Soldaten der IDF bewusst Zivilisten ermordet hätten und die israelische Luftwaffe wahllos Bombenangriffe durchgeführt habe. Für die Studie seien einzelne Vorfälle forensisch untersucht worden. Dabei sei man zu dem Schluss gekommen, dass Berichte über angeblich systematische Tötungen nicht haltbar seien.

In Bezug auf die städtische Kriegsführung sei eine vergleichende militärhistorische Studie durchgeführt worden. Auch Vorwürfe, dass Scharfschützen gezielt auf Kinder im Gazastreifen geschossen haben sollen, wurden untersucht. »Wir haben gezeigt, dass dies nicht mit den vorhandenen Studien zu Verletzungsmustern im Gazastreifen übereinstimmt.«

Nachweisbare Absicht

Habe nun die IDF versucht, die Zahl ziviler Opfer zu minimieren oder zu maximieren? Dies sei eine notwendige Frage, um überhaupt über Völkermord sprechen zu können, so Orbach. Und in diesem Zusammenhang verweist er beispielsweise auf die von der israelischen Armee immer wieder vor Angriffen auf bestimmte Häuser oder Stadtviertel veröffentlichten Evakuierungsbefehle: »Meines Wissens gibt es keine andere Armee, die so gezielte Evakuierungsbefehle erteilt wie die IDF.« Wer so vorgehe, verliere das Element der Überraschung. »Ich opfere einen militärischen Vorteil, um die Zivilbevölkerung im Voraus zu warnen. Auch das ist nicht das Muster einer genozidalen Armee.«

Auch die Anzahl ziviler Opfer im Krieg Israels gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas sei kein Beleg für Völkermord. Die Studie verweist auf die rechtliche Definition: Ein Genozid erfordere die nachweisbare Absicht, eine Bevölkerungsgruppe gezielt auszulöschen. Eine solche Absicht sei in israelischen Handlungen nicht im Ansatz erkennbar.

Zwar hätten Tausende Unbeteiligte ihr Leben verloren, doch »die überwältigende Mehrheit der Angriffe richtete sich gegen militärische Infrastrukturen, die Hamas absichtlich in dicht besiedelten Gebieten platzierte«, heißt es in der Studie.

Aufschlüsselung der Opfer

Zumal die Zahl der Opfer absolut unklar sei. Orbach kritisierte unter anderem eine aktuelle Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Dort gehe ein Forscherteam davon aus, dass mindestens 100.000 Menschen in dem mehr als zwei Jahre währenden Krieg gestorben oder getötet worden seien.

Orbach zweifelt diese und andere statistischen Schätzungen an. »Diese akademischen Diskussionen basieren praktisch auf nichts. Sie haben keine Sterblichkeitsdaten, um dies zu beweisen oder zu untermauern, nicht einmal nach der Version der Hamas.« Man könne keine definitive Antwort auf die Gesamtzahl und die Aufschlüsselung der Opfer geben.

Klar sei, dass noch viele Fragen beantwortet werden müssten. Aber es lasse sich festhalten, dass er und seine Kollegen »mit einem Großteil des Konsenses der Medien, Wissenschaftler, Akademiker, der UN und der NGOs zu Gaza überhaupt nicht einverstanden sind«.

Tatsächliche Ereignisse

Der Zweck der Untersuchung sei es gewesen, die tatsächlichen Ereignisse zu identifizieren, nicht jedoch, sich an rechtlichen oder ethischen Diskussionen zu beteiligen. »Die Diskussion über die rechtlichen und ethischen Implikationen des Krieges ist zwar wichtig, aber wir sind der festen Überzeugung, dass eine solche Diskussion auf einer soliden Faktengrundlage beruhen muss, um sinnvoll und relevant zu sein«, heißt es in der Studie.

Dabei schmälere und ignoriere der Fokus auf die Faktenanalyse in keiner Weise das schwere menschliche Leid in Gaza »und soll auch nicht die Rhetorik oder das Versagen der israelischen Regierung herunterspielen«.

Orbach fügte hinzu, dass sich »zu viele Menschen, einschließlich internationale Gerichte, auf Berichte der Vereinten Nationen stützen, etwa, als wäre das, was der Generalsekretär gesagt hat, ein Beweis – was es aber nicht ist«. Kein Historiker würde solche Beweise berücksichtigen. Deshalb sei man bei der Studie auch so wissenschaftlich wie möglich vorgegangen, sei den Fakten gefolgt und habe erst dann die Schlussfolgerungen gezogen. »Unsere Methodik war eine quantitative, statistische und vergleichende Analyse.« Man habe immer nach den Primärquellen gesucht, nach den forensischen Daten, und israelische, internationale und palästinensische Quellen gegenübergestellt, so der Militärhistoriker. ddk

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