Treffen

»Das ist jetzt meine Familie«

Auf dem Tisch neben dem Rednerpult im Berliner Hotel Hilton stehen sieben Kerzen. »Sechs Kerzen für sechs Millionen ermordeter Juden und eine Kerze für eineinhalb Millionen Kinder, die nicht mehr unter uns sind«, sagt Max Arpels Lezer. Er ist selbst eines der Kinder, die den Holocaust überlebt haben, so wie viele der 325 Teilnehmer der Konferenz der »World Federation of Jewish Child Survivors of the Holocaust and Descendants«, die sich zum ersten Mal im Land der Täter treffen, um sich auszutauschen und »vielleicht auch ein Zeichen zu setzen, hier, wo alles begann«, wie Max Arpels Lezer sagt.

gemeinschaft Überlebende Kinder der Schoa und deren Angehörige, die eine Konferenz in Berlin abhalten – das ist ein Politikum. An den vorderen Tischen im Saal sitzen deshalb hochrangige Gäste: Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman, sein US-Kollege John B. Emerson und Felix Klein, der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen.

Max Arpels Lezer ruft einige der Teilnehmer im Saal auf, stellvertretend für alle die Kerzen zu entzünden. Es sind Großväter, Mütter, Kinder, Enkel aus den USA, Kroatien, Israel, der Ukraine, Polen, Holland, Deutschland. Aus allen Teilen der Welt sind sie angereist. Stefanie Seltzer, Präsidentin der Federation, begrüßt sie: »Wir nennen uns alle Brüder und Schwestern. Wir betrachten uns als eine Familie, in der die meisten von uns nicht aufwachsen konnten. Wir können unseren Schmerz mit niemand anderem teilen. Aber wenn wir zusammen sind, sind wir vollständige Personen.« Es ist jetzt ganz still im Saal, man könnte eine Nadel fallen hören. »Wir weinen den ganzen Tag«, sagt Stefanie Seltzer, »und wir tanzen die ganze Nacht.«

Dann beginnen Workshops, angeleitet von Rabbinern und Psychologen: Wie fühlen wir uns dabei, in Deutschland zu sein? Wie hat die Schoa unsere Hoffnungen und Beziehungen beeinflusst? Wie gehen wir mit dem Verlust unserer Eltern und Großeltern um? Das sind einige der Fragen, denen die Teilnehmer nachspüren. In einem Workshop schreiben sie eine Familiengeschichte, in anderen geht es um die Probleme der zweiten und dritten Generation oder um die Suche nach Glück jenseits der Traurigkeit. Traurigkeit – ein Wort, das viele der Überlebenden sagen, wenn man sie nach ihrem Befinden fragt. Traurigkeit und Einsamkeit.

kindertransporte »Innerlich fühlte ich mich sehr lange allein. Erst diese Zusammenkünfte boten die Möglichkeit, mit Menschen zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben«, sagt Stefanie Seltzer. Sie blickt vom ersten Stock auf den Gendarmenmarkt. Schöne Buchsbäume, der Dom, bewegtes Treiben. »Ich erinnere mich daran, wie die Deutschen Kinder an den Beinen packten und wie Vieh auf Wagen warfen.« Bilder, die sie nie vergessen wird. Bilder, die sie mit anderen teilen muss. »Viele von uns suchen Hilfe. Die Leiter der Workshops sind selbst Child Survivors. Wir würden uns anderen gegenüber nicht frei fühlen, von unseren Erfahrungen zu erzählen.«

Als Max Arpels Lezer zur Konferenz am Flughafen Tegel ankam, deutete ein Zollbeamter auf seinen Koffer und rief: »Aufmachen!« Sofort sei alles wieder präsent gewesen. »Ich erinnerte mich an diese Worte aus dem Jahr 1942, als die Nazis an unsere Tür hämmerten und schrien: Aufmachen!« Er habe dem Beamten entgegnet: »Können Sie sagen: Aufmachen, bitte?« Erst, als er im Hotel ankam und auf andere Teilnehmer traf, sei es ihm wieder gut gegangen. »Wenn Sie 1945 zurückkehren und feststellen, dass Sie keinen Onkel mehr haben, keine Tante, keine Oma, keinen Opa, keine Neffen, dass alle weg sind, dann ist das hier meine Familie.«

Melissa Hacker ist in New York zur Welt gekommen. Ihre in Wien geborene Mutter kam im Alter von zwölf Jahren mit einem Kindertransport nach London. »10.000 jüdische Kinder durften zwischen November 1938 und September 1939 gegen Geld und ohne Begleitung der Eltern nach England reisen, das hatte Chamberlain erwirkt.« Melissas Großeltern konnten später ausreisen. Der Cousin ihrer Mutter wurde im Alter von fünf Jahren in Auschwitz ermordet. Ein Jahr blieb Melissas Mutter in einem Heim in England, kurz vor Kriegseintritt der USA konnte die Familie nach New York emigrieren. Eine Ausnahme: »70 Prozent der Eltern des Kindertransports wurden ermordet«, weiß Melissa Hacker. Sie hat einen oscarnominierten Film über die Kindertransporte gedreht und ist heute Präsidentin der Kindertransport-Association. »Erst im Austausch mit anderen habe ich meine Mutter besser verstanden.«

rückkehr Steve Adler war eines der Kinder auf diesem Transport. Aufgewachsen in Berlin, hieß er damals Stefan. Mit sechs Jahren kam er in eine jüdische Schule. Zumindest dachte er das. Erst 1997 fand er bei einem Besuch heraus, dass es eine katholische Schule war. »Meine Mutter musste mich wohl dorthin gebracht haben, um mich zu schützen.«

An den Morgen nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 kann sich Adler noch gut erinnern. Die Eltern schickten ihn zur Schule, weil sie noch nicht wussten, was passiert war. Die Schule schickte ihn wieder nach Hause. Am Nachmittag wurde sein Vater verhaftet und in das KZ Sachsenhausen gebracht. Aber das fand Steve Adler erst später heraus. Ab diesem Tag erinnert er sich nämlich an nichts mehr. »In meinem Kinderausweis steht, dass ich am 20. November mit dem Zug nach Hamburg gelangte und am 21. in England ankam. Ich erinnere mich aber nicht daran, wie mich meine Eltern zum Bahnhof brachten oder ob ich die Zeit zuvor noch in der Schule war oder nicht.« Erst ab der Ankunft in England setzt seine Erinnerung wieder ein. »Ein häufiges Phänomen. Viele von uns haben zu einer bestimmten Zeit das Gedächtnis verloren.« Steve lebte bei einem Onkel, sein Bruder wurde von Quäkern aufgenommen. Seine Eltern konnten nach London fliehen. Die Großeltern wurden nach Riga verschleppt und mit 1882 anderen auf dem Transport ermordet.

Steve Adler hatte bereits vor der Berliner Konferenz Deutschland dreimal bereist. Er sprach vor Schulklassen und Studenten. »Für sie ist das auch ein Familienereignis, nur leider sind es oft die Täter in der Familie.« Dennoch oder gerade deshalb verspürt er eine Verantwortung: »Wir repräsentieren die Überlebenden. Aber was ist mit den Kindern, deren Köpfe an der Wand zerschlagen wurden? Sie hatten keine Chance, zu leben, zu fühlen. Ich bin hier, um für die Zahllosen zu sprechen, die nicht mehr sprechen können.«

Im Anschluss an den Kongress wird Adler die katholische Schule, die ihn aufgenommen hatte, aufsuchen. »Ich möchte herausfinden, ob die Priester damals wussten, dass wir Juden waren. Vielleicht gibt es noch Unterlagen?« Bei seinem letzten Besuch in Berlin traf er eine Lehrerin, die jetzt Direktorin dieser Schule ist. »Es ist schon eine erstaunliche Erfahrung, hierher zurückzukommen. Wir wollten wirklich alle diese Konferenz in Berlin haben.«

aktualität Die Tagung findet zu einer Zeit statt, in der Antisemitismus in Berlin wieder ein aktuelles Thema ist. Daran erinnern die Gastredner am ersten Abend. Klaus Wowereit dankt den Teilnehmern dafür, dass sie nach Berlin gekommen sind, »was für viele von Ihnen nicht einfach war«, und dafür, dass manche auch in Schulen von ihrem Schicksal erzählen werden. Dann wird er plötzlich laut: »Wir können es nicht tolerieren, wenn Raketen auf Israel abgefeuert werden und Juden wieder in Angst leben müssen.« Großer Applaus. Auch auf die jüngsten Ereignisse geht der Regierende Bürgermeister ein, bei denen es in Berlin wie in anderen Städten auf antiisraelischen Demonstrationen und propalästinensischen Kundgebungen zu judenfeindlichen Hetztiraden, Parolen und Ausschreitungen gekommen war. »Wir werden keine Hassparolen und antisemitische Äußerungen zulassen. Wer Juden angreift, greift die ganze Gesellschaft an.«

Auch Israels Botschafter Hadas-Handelsman spricht die Ausschreitungen an: »Juden wurden in Deutschland wieder angegriffen und bedroht. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Aber die deutsche Regierung hat sofort und entschlossen reagiert, und die jüdische Gemeinschaft fühlt sich sicher und beschützt.« Wenn sich 2015 der 50. Jahrestag der Aufnahme der deutsch-israelischen Beziehungen nähere, sagt Hadas-Handelsman, »wissen wir, dass wir eine einzigartige und tiefe Beziehung haben, die aus der Vergangenheit kommt, aber auch in die Gegenwart und Zukunft reicht.«

Der Schmerz ist da, und er bleibt. Aber er weicht der Freude, der Musik in der Nacht. Bei einer früheren Konferenz in Polen traf Melissa Hacker einen Mann, mit dem sie damals tanzte. Beim Abschied sagte er ihr: »Ich freue mich darauf, mit Ihnen in Berlin zu tanzen.«

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