Erinnerung

»Angesichts von Unterdrückung und Gewalt nicht abstumpfen«

Der Historiker Axel Drecoll Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Brandenburgs Gedenkstätten erinnern 90 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit einem vielfältigen Programm an den NS-Terror und seine Opfer. Die Geschichte mahne, angesichts von Unterdrückung und Gewalt nicht abzustumpfen, sagt der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll im Interview. Menschenrechtsverletzungen müssten auf möglichst breiter internationaler Basis sanktioniert werden.

Wie sind die brandenburgischen Gedenkstätten durch das dritte Coronajahr gekommen?
Bis zum 21. März waren die Museen geschlossen und die Teilnehmerzahlen bei Führungen reduziert. Allerdings ist das Thema Corona durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen in den Hintergrund getreten. Wir haben zusammen mit anderen Gedenkstätten und Initiativen eine Hilfsaktion für NS-Verfolgte in der Ukraine gestartet und unterstützen Kolleginnen und Kollegen der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten und in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation »Memorial«. Sorgen machen uns die steigenden Energiekosten, die unseren Haushalt belasten. Um den Verbrauch zu reduzieren, sind in den Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück seit dem Herbst einige der Museen geschlossen.

Wie haben sich die Besucherzahlen entwickelt?
Bei den Besucherzahlen sind im vergangenen Jahr deutliche Steigerungen zu verzeichnen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen hat sich die Zahl mit 355.000 Besuchern gegenüber dem Vorjahr mehr als verdreifacht und hat damit die Hälfte des Vor-Corona-Niveaus erreicht. Bei den pädagogisch betreuten Besuchern wurde in der Gedenkstätte Ravensbrück mit über 10.000 Personen fast die Zahl von 2019 erreicht, als 11.500 Personen betreut wurden. In der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg an der Havel wurde mit 5.700 Besuchern die Zahl von 2019 sogar um rund 100 Besucher übertroffen.

Was erwartet und plant die Stiftung 2023?
In diesem Jahr feiert die Stiftung ihr 30-jähriges Bestehen. Dazu wird im Herbst ein Festakt stattfinden, den wir gemeinsam mit der Landesregierung ausrichten werden. Nach der deutschen Einheit haben wir die ehemaligen DDR-Gedenkstätten zu modernen zeithistorischen Museen entwickelt, die sich zusätzlich um Überlebende und Angehörige kümmern und einen besonderen Schwerpunkt in der Bildungsarbeit haben. Jetzt stehen wir vor neuen Herausforderungen, nicht zuletzt im Bereich der digitalen Transformation. Hier werden wir in diesem Jahr Projekte abschließen, mit deren Hilfe unter anderem die digitale Infrastruktur verbessert und eine neue Datenbank-Software eingeführt wird. Außerdem werden Sammlungsbestände digitalisiert und eine digitale Anwendung für die pädagogische Arbeit in der Gedenkstätte Sachsenhausen fertiggestellt, die Jugendlichen eine intensive Beschäftigung mit Objekten aus den musealen Sammlungen ermöglicht. Außerdem wird die Stiftung in diesem Jahr erweitert: Die bisher als Treuhandstiftung angegliederte Gedenkstätte Leistikowstraße Potsdam sowie die Gedenkstätte Lieberose werden in die Stiftung integriert.

Was für Themen beschäftigen Sie darüber hinaus?
Für die Gedenkstätte Sachsenhausen zeichnet sich eine Lösung in der Diskussion um ein neues Verkehrskonzept ab, mit dessen Umsetzung wir hoffentlich bald beginnen können. Im Juni wird die Gedenkstätte an den 85. Jahrestag der »Aktion Arbeitsscheu Reich« erinnern, bei der über 6000 als »asozial« stigmatisierte Männer in das KZ Sachsenhausen verschleppt wurden. Unter anderem wird eine Gedenkskulptur für diese bislang vergessene Opfergruppe enthüllt. Am 24. Januar wird die Ausstellung »Faces of Europe« mit großformatigen Fotoporträts von 27 Frauen aus 13 Ländern, die im KZ Ravensbrück inhaftiert waren, im Europäischen Parlament in Brüssel eröffnet. Die 16. Sommer-Universität Ravensbrück wird sich mit dem nahenden Ende der Zeitzeugenschaft und deren Auswirkungen auf die europäische Erinnerungskultur beschäftigen. Die Gedenkstätte Zuchthaus Brandenburg-Görden bietet ab 2023 inklusive pädagogische Formate für alle Besuchsgruppen an, wie dies in der Euthanasie-Gedenkstätte am Nicolaiplatz bereits seit einigen Jahren der Fall ist. Ab April wird eine Sonderausstellung über eine Widerstandsgruppe ausländischer Zwangsarbeiter zu sehen sein, die teilweise in Brandenburg an der Havel hingerichtet wurden.

Vor 90 Jahren begann 1933 die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten. Wie greift die Stiftung dies auf?
Als unmittelbare Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung entstanden bald nach dem 30. Januar überall im Deutschen Reich Konzentrationslager, in denen Regimegegner mit brutaler Gewalt gefangen gehalten, misshandelt und auch ermordet wurden. Eines dieser Lager war das mitten in der Stadt gelegene und von der lokalen SA-Standarte eingerichtete KZ Oranienburg. Am 21. März, dem 90. Jahrestag seiner Gründung, wird in der Gedenkstätte Sachsenhausen die Ausstellung »Auftakt des Terrors« eröffnet, die 15 der insgesamt mehr als 90 dieser frühen Konzentrationslager, unter ihnen das KZ Oranienburg, vorstellt. Die Ausstellung wurde von der Arbeitsgemeinschaft »Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager« erarbeitet und wird gleichzeitig an zahlreichen Orten in ganz Deutschland gezeigt.

Am Tag der Inbetriebnahme des KZ Oranienburg wurde mit dem »Tag von Potsdam« die Reichstagseröffnung gefeiert, unter anderem in der Garnisonkirche. Wie geht die Stiftung damit um?
Die alten preußischen Eliten einschließlich großer Teile des Adels, allen voran der Sohn des letzten Kaisers, haben die nationalsozialistische Machtergreifung begrüßt und massiv unterstützt. Dazu gehört auch die brutale Bekämpfung der politischen Gegner vor allem aus der Arbeiterbewegung. Viele Angehörige dieser Eliten hatten einflussreiche Positionen in Verwaltung und Justiz inne und arbeiteten bei der Zerstörung der Demokratie Hand in Hand mit den Nationalsozialisten. Am »Tag von Potsdam« wurde diese Kooperation gemeinsam gefeiert. Dass am gleichen Tag das KZ Oranienburg eröffnet wurde, ist eine treffende Koinzidenz, denn beides gehört zusammen, das Bündnis der Demokratiefeinde und der Terror. Dies wird auch in der Dauerausstellung zum KZ Oranienburg in der Gedenkstätte Sachsenhausen thematisiert.

Im KZ Oranienburg, in dem der Dichter Erich Mühsam ermordet wurde, war auch der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Gerhart Seger inhaftiert. Im Dezember 1933 gelang ihm die Flucht, danach berichtete er über die Zustände im KZ und fand dafür auch international Öffentlichkeit. Welche Bedeutung hat diese frühe Widerstandsgeschichte aus heutiger Sicht?
Gerhart Segers Bericht über seine Erlebnisse im KZ Oranienburg wurde in viele Sprachen übersetzt und fand eine enorme Verbreitung. Er trug mit dazu bei, dass das Wort »Oranienburg« zum Synonym für die nationalsozialistischen Konzentrationslager wurde. Zugleich muss man jedoch feststellen, dass die Konzentrationslager sehr rasch wieder aus der Wahrnehmung durch die internationale Öffentlichkeit verschwanden. Als wenige Jahre später im Sommer 1936 in Oranienburg ein neuer, riesiger KZ-Komplex, das KZ Sachsenhausen, gebaut wurde, fand dies keinerlei Erwähnung. Stattdessen ließ sich die internationale Öffentlichkeit vom durch die NS-Propaganda inszenierten Glanz der zur gleichen Zeit nur wenige Kilometer entfernt stattfindenden Olympischen Spiele in Berlin blenden. Dies sollte uns mahnen, angesichts von staatlicher Unterdrückung und Gewalt, wo immer auf der Welt dies heute geschieht, nicht abzustumpfen. Es gilt, Politik und Öffentlichkeit immer wieder zu erinnern und die Verletzung der Menschenrechte auf möglichst breiter internationaler Basis zu sanktionieren.

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