Essay

All die potenziellen Schüsse

Polizeibeamte stehen bei einer Razzia gegen die Terrororganisation Hamas in Berlin vor dem Eingang eines Gebäudes. Foto: picture alliance/dpa

+++ An der deutsch-tschechischen Grenze hält die Polizei ein Auto an: Darin sitzt ein Mann, der Waffen besorgen sollte, »für Anschläge auf israelische oder jüdische Einrichtungen«. +++ Spezialeinheiten der Polizei stürmen ein Haus in Berlin: Ein syrischer Staatsbürger wird verdächtigt, einen »dschihadistisch motivierten Anschlag« vorbereitet zu haben. +++ Der Generalbundesanwalt lässt einen Mann in Dänemark festnehmen: Er soll der Kontaktmann eines iranischen Spions sein, dem er zugesagt habe, »eine Waffe zu verschaffen«, um einen Anschlag auf jüdische Ziele zu begehen.+++

Diese Meldungen stammen alle aus diesem Monat, aus dem November 2025. Sie ploppten nur kurz auf meinem Handy auf, ich wischte sie weg: Schließlich ist im Grunde ja nichts passiert. Die deutschen Behörden griffen zu, bevor die Waffen übergeben oder bestellte Einzelteile einer Bombe zusammengebaut waren – als der Terror noch eine Fantasie im Chat war.

Kein Jude wurde ermordet – auch wenn es vielfach angedroht wurde.

Es scheint, als hätten die Behörden die Gefahr des Terrorismus – und insbesondere des Terrors gegen Juden – einigermaßen im Griff. Trotz der explodierenden Zahlen antisemitischer Straftaten, der kleinen und großen, verbalen und physischen Attacken könnte man konstatieren: Den einen großen Anschlag, den hat es in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland nicht gegeben. Kein Jude wurde ermordet – auch wenn es vielfach angedroht wurde.

Deutsche Sicherheitsbehörden haben in den vergangenen zehn Jahren 25 terroristische Anschläge verhindert, liest man anlässlich des Jahrestags der Pariser Anschläge 2015 in der Zeitung. (Die ja, das las man nicht so oft, zumindest antisemitisch gefärbt waren: Das Bataclan hatte zuvor einen jüdischen Besitzer, der Erklärung des IS zum Anschlag war eine Sure vorangestellt, die sich auf die Vertreibung eines jüdischen Stamms durch Mohammed bezieht.)

Zehn Jahre nach Paris aber scheint es, als seien die Geheimdienste den Terroristen meist einen Schritt voraus, auch oder gerade weil sie Hinweisen aus den USA oder Israel nachgehen. Im Deutschlandfunk bestätigte vergangene Woche ein Experte meinen Eindruck. Er sprach von der taktischen Anpassung der Islamisten: Die Ambitionen seien zwar weiterhin da, große Anschläge zu verüben. Doch würden Netzwerke fast immer entdeckt. Daher setze man auf Einzeltäter. Statt Kalaschnikows kommen Messer zum Einsatz, die Attacken passieren auf offener Straße, ohnehin hoch gesicherte jüdische Gebäude werden weniger zur Zielscheibe.

Ja, wir haben manchmal Angst. Aber wir haben auch viel Mut.

Können wir uns also sicherer fühlen? Verfolgt man eine Meldung aus diesem Herbst, ergibt sich ein anderes Bild: Nach dem Zugriff auf drei Hamas-Mitglieder in Berlin Anfang Oktober tauchten sukzessive Komplizen auf dem Radar der Ermittler auf: In Schleswig-Holstein, in Sachsen, aber auch in England wurden Männer verhaftet. Zählt man die dabei sichergestellten Waffen, wird einem schwindelig: All die potenziellen Schüsse! Ein Anschlag mit 130 Toten wie in Paris wirkt plötzlich doch nicht so fern. Im Visier waren auch hier »jüdische Einrichtungen«.

Wer in Deutschland regelmäßig in den koscheren Supermarkt oder zum Gebet geht – der muss eine gewisse Ignoranz gegen solche Nachrichten entwickeln. Genauso wie ich in ein Flugzeug steige und versuche, nicht an die Berichte über Abstürze zu denken, gehe ich in die Synagoge: die Straßensperrung, den Wachschutz, die Schleuse passieren und nicht daran denken. Beten und Weite im Herzen schaffen und nicht daran denken. Plötzlich Knaller draußen hören und nicht daran denken, aber dann daran denken, dass meine Freundin, die den Anschlag auf die Synagoge in Halle überlebte, erzählte, sie habe sich zunächst damit beruhigt, es sei nur ein Feuerwerk.

Derzeit beobachtet das Bundeskriminalamt 575 »Gefährder«.

Es ist das Ziel der Terroristen, diese Gedanken in uns auszulösen. Die Bilder des Terrors treffen ins Mark – aber auch die Nachrichten über vereitelte Anschläge schleichen sich in den Kopf. Als ich anlässlich dieses Textes Jüdinnen und Juden in meinem Umfeld fragte, ob sie das kennen – plötzlich ein Geräusch hören und Herzklopfen kriegen, überlegen, wo man sich vor einem Attentäter verstecken könnte, vor dem israelischen Restaurant zur Sicherheit in die parkenden Autos schielen –, musste ich feststellen, dass es nicht nur mir so geht. Im Gegensatz zu meiner Flugangst ist die Furcht vor antisemitischem Terror keine Phobie. Es gibt gute Gründe, warum wir alle ähnliche Ängste teilen.

Den einen großen Anschlag hat es in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland nicht gegeben. Aber es gab Brandsätze auf Synagogen, Schläge bei McDonald’s, Tritte, die eine Hirnblutung auslösten. Kein Jude wurde ermordet. Doch es gab etliche Meldungen über Festgenommene, die genau das planten. Derzeit beobachtet das Bundeskriminalamt 575 »Gefährder«. Darunter sind vor allem Islamisten und Rechtsextreme, viele überzeugte Antisemiten. Doch nicht immer reicht die Überwachung durch die Behörden. Das zeigte jüngst an Jom Kippur der Anschlag auf die Synagoge in Manchester, zwei Menschen wurden getötet. Die Polizei hatte den Täter eigentlich auf dem Schirm.

Ich glaube, es ist wichtig, anzuerkennen, dass wir all das – oft auch unbewusst – mitbekommen und verarbeiten. Dass dieser Zustand nicht normal werden darf. Dass die gesellschaftliche Pflicht, dem Judenhass Einhalt zu gebieten, nicht damit getan ist, dass unsere Behörden effizienter arbeiten. Gleichzeitig ist es gesund, die Angst nicht alltäglich werden zu lassen. Indem wir weiter in die Synagogen gehen, uns treffen und offen zeigen, leisten wir dem Terror – auch dem potenziellen – Widerstand. Ja, wir haben manchmal Angst. Aber wir haben auch viel Mut.

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