Sachsen

712 antisemitische Vorfälle in fünf Jahren

Benjamin Steinitz, Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Berlin Foto: dpa

Antisemitismus ist für Jüdinnen und Juden in Sachsen im Alltag präsent. Aber nur ein Teil antisemitischer Vorfälle wird erfasst, noch weniger kommen zur Anzeige. Das belegt eine Studie des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS), die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

Der Verband hat zwischen 2014 und 2019 in Sachsen 712 antisemitische Vorfälle registriert. Darunter seien 484 polizeilich erfasste politisch motivierte Straftaten, sagte RIAS-Bundesgeschäftsführer Benjamin Steinitz am Dienstag bei der Vorstellung einer Studie in Berlin.

QUELLEN 178 Fälle seien ausschließlich aus zivilgesellschaftlichen Quellen bekannt. Lediglich 50 antisemitische Vorfälle wurden laut Steinitz von Polizei und Zivilgesellschaft erfasst. Unter den Fällen waren 16 Angriffe, 43 Bedrohungen und 68 Sachbeschädigungen. Seit 2017 zeichnet sich eine steigende Tendenz ab.

Im Schnitt seien pro Woche etwa drei Fälle bekannt geworden.

Im Schnitt seien pro Woche etwa drei Fälle bekannt geworden. »Wir müssen aber von einem erheblichen Dunkelfeld in allen Regionen des Freistaates ausgehen«, sagte Steinitz. Die meisten Vorfälle und die schwersten gebe es in den drei großen Städten Dresden, Chemnitz und Leipzig, wo auch die jüdischen Gemeinden beheimatet sind.

Bei den Vorfällen handelte es sich zu jeweils über 40 Prozent um antisemitisch begründete Äußerungen, die sich etwa gegen eine Erinnerung an die NS-Verbrechen wandten oder die sich für eine gesellschaftliche Ausgrenzung von Juden aussprachen.

Neun Prozent fielen auf einen auf Israel bezogenen Antisemitismus, der dem Staat die Legitimität absprach. Rund fünf Prozent waren Verschwörungsmythen über eine vermeintliche politische oder wirtschaftliche Weltmacht von Juden. Insgesamt 0,3 Prozent betrug der Anteil eines religiös begründeten Antisemitismus wie den Vorwurf, Juden seien für den Tod Jesu Christi verantwortlich.

BUNDESLÄNDER Vergleichbare Erkenntnisse zeigten RIAS-Studien auch für andere Bundesländer. Neben Berlin komme es aber vor allem in der Landeshauptstadt Dresden vermehrt zu antisemitischen Vorfällen – vor allem im Umfeld von Demonstrationen, etwa bei der asylfeindlichen »Pegida«-Bewegung oder bei Corona-Protesten, sagte Steinitz.

Seit 2018 verfolgt RIAS nach eigenen Angaben das Ziel, eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle zu etablieren. Daten gebe es bisher unter anderem aus Baden-Württemberg, Bayern und Brandenburg sowie Hessen und Sachsen-Anhalt. Für die Studien werden qualitative und quantitative Quellen herangezogen.

Ein latenter Antisemitismus ist laut RIAS-Referent Daniel Poensgen immer präsent. Jüdinnen und Juden würden als eine fremde Gruppe gesehen und zugleich mit Macht und Geld verbunden.

MILIEUS Viele Vorfälle gingen von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten aus, einige auch von islamistischen Milieus. Es gebe Antisemitismus in allen Bildungs- und Sozialmilieus. Betroffenen hätten verschiedene Umgangsweisen, sie versuchten Antisemitismus zu ignorieren oder zu vermeiden, als jüdisch wahrgenommen zu werden. Manche würden auch umziehen oder den Dialog suchen.

Der Bedarf einer Dokumentation antisemitischer Vorfälle sei schon lange angezeigt gewesen, sagte Nora Goldenbogen.

Der Bedarf einer Dokumentation antisemitischer Vorfälle sei schon lange angezeigt gewesen, sagte die Vorsitzende des sächsischen Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, Nora Goldenbogen. In ganz Deutschland sei das Leben für Jüdinnen und Juden schwieriger geworden, auch in Sachsen spüre sie seit langem mehr alltäglichen Antisemitismus.

ARBEITSGRUNDLAGE Die Studie bilde eine Arbeitsgrundlage, um stärker dagegen vorzugehen. Vielen Jüdinnen und Juden fehle es an Vertrauen in staatliche Behörden und auch zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Goldenbogen kritisierte, dass in Dresden bei »Pegida«-Demonstrationen Holocaust-Leugner zu lange, teilweise unbehelligt, auftreten konnten. »Es hat lange gedauert, bis diesem Spuk ein Ende gemacht werden konnte«, sagte sie.

Für die Studie führte der Bundesverband Rias auch Interviews mit 23 Betroffenen, zumeist Repräsentanten der jüdischen Gemeinden. Zwei Drittel von ihnen berichteten, dass sie solche Vorfälle unmittelbar erfahren hatten. Mehr als die Hälfte der Interviewpartner berichteten, diese auch angezeigt zu haben.

Nur jedem Dritten war jedoch bekannt, dass solche Anzeigen zu Gerichtsverfahren führten. Dies belegt nach Auffassung des Bundesverbands Rias die Notwendigkeit, auch in Sachsen eine zivilgesellschaftliche Beratungs- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle einzurichten.

AUSSCHREIBUNG Die Sächsische Staatsregierung will die Stellen für eine solche Einrichtung in den kommenden Wochen ausschreiben, wie deren Beauftragter für das Jüdische Leben, Thomas Feist, bei der Online-Vorstellung der Studie ankündigte. Sie solle »niedrigschwellig, gemeindenah und mehrsprachig« sein und spätestens im Herbst eröffnen.

Nora Goldenbogen sagte, eine solche Meldestelle sei besonders für zugewanderte Gemeindemitglieder wichtig, die »Hemmungen« beim Kontakt mit den staatlichen Behörden hätten. Sachsens Landesrabbiner Zsolt Balla forderte mehr »interkulturelle Sozialkompetenz bei Polizei und Verwaltung, um sie besser bei der Bekämpfung von Antisemitismus zu sensibilisieren«. epd/kna

Berlin

Angriff auf Leiter deutsch-arabischer Schule in Neukölln

Al-Mashhadani gilt als Kritiker islamistischer Netzwerke und setzt sich für einen arabisch-israelischen Austausch ein

 15.11.2025

Debatte

»Hitler hatte eine unentdeckte genetische sexuelle Störung«

Eine neue britische Dokumentation über Adolf Hitler sorgt für Diskussionen: Kann die Analyse seiner DNA Aufschluss über die Persönlichkeit des Massenmörders geben?

 15.11.2025

Deutschland

Auschwitz-Komitee: Geplante Auktion ist schamlos 

Ein Neusser Auktionshaus will einen »Judenstern« und Briefe von KZ-Häftlingen und deren Angehörigen versteigern. Das internationale Auschwitz-Komitee reagiert

 15.11.2025

Debatte

Verbot durch US-Präsident Trump: Wie gefährlich ist die »Antifa-Ost« wirklich?

In einem ungewöhnlichen Schritt stuft die Trump-Regierung vier linksextreme Organisationen als Terrorgruppen ein - in Europa. Betroffen ist auch eine Gruppierung in Deutschland

von Luzia Geier  14.11.2025

Nahostkonflikt

Indonesien will 20.000 Soldaten für Gaza-Truppe bereitstellen

Der US-Plan für die Stabilisierung des Küstenstreifens sieht eine internationale Eingreiftruppe vor. Einige Staaten haben bereits Interesse bekundet

 14.11.2025

Terror

Mutmaßliches Hamas-Mitglied in U-Haft

Der Mann soll Waffen für Anschläge auf jüdische und israelische Ziele transportiert haben

 14.11.2025

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Gastbeitrag

Kein Ende in Sicht

Der Antisemitismus ist in den vergangenen zwei Jahren eskaliert. Wer jetzt glaubt, dass es eine Rückkehr zum Status vor dem 7. Oktober 2023 gibt, macht es sich zu leicht. Denn auch vor dem »Schwarzen Schabbat« trat der Antisemitismus zunehmend gewaltvoller und offener zutage

von Katrin Göring-Eckardt, Marlene Schönberger, Omid Nouripour  13.11.2025

Israel

Altkanzlerin Merkel besucht Orte der Massaker

Angela Merkel besuchte den Ort des Nova-Festivals und den Kibbuz Nahal Oz

 13.11.2025