Jom Haschoa

120 Sekunden Stillstand

Mit dem Schrillen der Sirenen am Jom Haschoa steht in Israel für zwei Minuten das Leben still. Foto: picture alliance / Ilia Yefimovich/dpa

Stellen Sie sich vor, es ist zehn Uhr morgens. Plötzlich schrillen die Sirenen im ganzen Land. In den Großstädten und in den kleinen Dörfern, auf den Straßen und im Radio, im Fernsehen und sogar auf den großen Internetportalen. Abrupt stoppt das öffentliche Leben: Autos und Busse halten mitten auf der Straße an – auf der Autobahn wird breitspurig geparkt, die Menschen steigen aus den Autos aus. In Schulen und Universitäten wird der Unterricht unterbrochen, und in den Fabriken stehen die Fließbänder still.

Vom Schulkind bis zur Seniorin erheben sich die Menschen und stehen zwei Minuten lang still. Nur die Sirenen sind zu hören. Zwei Minuten lang. Keine lange Zeit – doch manchmal kommen einem 120 Sekunden wie eine Ewigkeit vor. So verläuft die »Tzfira«, der Höhepunkt des Holocaust-Gedenktags in Israel.

Vom Schulkind bis zur Seniorin erheben sich die Menschen und stehen zwei Minuten lang still.

tzfira Schon als Kleinkind, ohne Wissen von der Schoa, hat mich die Tzfira mitgenommen und nachhaltig geprägt. Gerade in einem Land, das in ständiger Gefahr lebt, ist die Bedeutung von Sirenen eindeutig: Rette dein Leben! Menschen werden früh darauf konditioniert, auf das Geheul schnell zu reagieren, Lebensgefahr mit dem schneidenden Ton zu verbinden.

Die Sirenen sind nicht nur ein Ritual, sie lösen auch eine körperliche, vielleicht sogar posttraumatische Reaktion aus. Ja, man darf von einer so umfassenden Form des Gedenkens halten, was man will. Und es gibt Widerstände, etwa, wenn ultraorthodoxe Juden demonstrativ ihren Alltag scheinbar ungerührt fortsetzen, weil sie den zionistischen Staat ablehnen. Aber ich glaube, dass auch sie die Tzfira nicht wirklich kaltlässt.

Zurzeit wird überall gefragt, was Deutschland vom Impf-Modellstaat Israel lernen kann. Eventuell kann man sich auch in Sachen Erinnerungskultur eine Scheibe abschneiden. Denn in der Pandemie zeigt sich in aller Deutlichkeit, was in Deutschland auf diesem Gebiet schiefläuft. Auf Demonstrationen sieht man nachgeäffte »Judensterne« mit der Aufschrift »Ungeimpft« oder Plakate mit einem Foto von Anne Frank, darunter der Schriftzug: »Anne Frank wäre bei uns«. Der Weg von der Verschwörungstheorie zu offenem Antisemitismus ist kurz: Nicht wenige vermuten, dass hinter der »Corona-Diktatur« die Juden stecken.

täter-opfer-umkehr Antisemiten haben sich immer als Opfer gefühlt. »Querdenker« und selbst ernannte »Corona-Rebellen« versinken in Selbstmitleid und Selbstbezüglichkeit. Ich frage mich, ob viele der hergebrachten Formen deutschen Gedenkens nicht Tür und Tor für solche Verdrehungen und Täter-Opfer-Umkehrungen geöffnet haben.

Schon als Kleinkind hat mich die Sirene am Jom Haschoa zutiefst geprägt.

Nehmen wir die Frage nach der eigenen Familiengeschichte. »Opa war kein Nazi« ist inzwischen geheimes Motto einer ganzen Generation geworden. Familiäre Verstrickungen werden verdrängt oder zu eigenen Gunsten umgeschrieben – meist unbewusst. Laut der aktuellen MEMO-Studie gaben mehr als 75 Prozent der Deutschen an, ihre Vorfahren seien im Nationalsozialismus keine Täter gewesen. Etwa 40 Prozent sagten, ihre Vorfahren hätten Opfern des Nationalsozialismus geholfen.

Die Vermeidung der Auseinandersetzung mit den Tätern steht im Gegensatz zum verbreiteten Selbstverständnis der Deutschen als »Weltmeister der Erinnerungskultur«. »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«, glaubte Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985. Daraus ist nichts geworden. Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass die zahlreichen Gedenkinitiativen und Spurensuchen nicht mehr ausreichen, um die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen – geschweige denn die jüngere Generation.

kehrtwende Die Forderung von Rechtsradikalen nach einer »180-Grad-Wende« der Erinnerungskultur sollten wir jetzt für uns reklamieren. Wir wollen eine Kehrtwende, genau in die andere Richtung! Weg von den Sonntagsreden und routinierten Betroffenheitsbekundungen. Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand und der zunehmenden Heterogenität der bundesdeutschen Gesellschaft wird Geschichte nur dann relevant bleiben, wenn sie sich im Alltag der Menschen niederschlägt.

Im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Geschichte sollte auch die Frage stehen, wie sich vor nicht einmal 100 Jahren eine moderne westliche Gesellschaft in kürzester Zeit in eine radikale Ausgrenzungsgesellschaft verwandeln konnte. Was in den 20er-Jahren gefehlt hat, war ein radikales Bekenntnis aller aufrichtigen Bürger zur gesellschaftlichen Verantwortung. Wie kann ein solches Bekenntnis öffentlich sichtbar gemacht werden? Es kann jedenfalls nicht per Gesetz eingefordert werden, sondern muss auf Freiwilligkeit basieren.

Alle müssten sich eindeutig und öffentlich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.

Ich stelle mir vor, wie die Tzfira in Deutschland verlaufen würde, wenn um zehn Uhr morgens plötzlich alle willigen Bürger in ihren Smartphones die Sirenen abspielen, ihre Arbeit niederlegen und für zwei Minuten innehalten. Alle müssten sich eindeutig und öffentlich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Für viele sicher ein sinnvoller Akt. Aber: Was würden Jana aus Kassel und ihre Querdenker-Freunde bei einer Tzfira tun?

Ich halte es eher für wahrscheinlich, dass sie begeistert mitmachen – unter dem Motto »Damals die Juden – heute wir«. Stolz würden sie mit dem »Ungeimpft«-Judenstern aufstehen. Wollen wir uns das wirklich zumuten? Auch diese Frage sollten wir uns stellen, wenn wir darüber nachdenken, ob wir auch in Deutschland mit einer Tzfira an die Opfer der Schoa erinnern sollten.

Der Autor ist Direktor der Bildungs­stätte Anne Frank in Frankfurt am Main.

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