Michael Wolffsohn

»Stahlhelme gab es schon vor den Nazis«

Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn Foto: imago

Michael Wolffsohn

»Stahlhelme gab es schon vor den Nazis«

Wer A zu Pluralität und Diversität sagt, muss auch B sagen – also ja zum Großen Zapfenstreich!

von Michael Wolffsohn  19.10.2021 11:19 Uhr

Schon wieder Aufregung über die Bundeswehr: der Große Zapfenstreich als Dank und Abschluss des Einsatzes im Afghanistan-Krieg erinnere, heißt es, in seiner Inszenierung an die NS-Zeit. Konkret werden Stahlhelm und Fackelzug genannt.

Der gleichen Logik zufolge dürften Nicht-und-Anti-Nazis heute kein Deutsch mehr sprechen. Der sechsmillionenfache Judenmord wurde auf Deutsch programmiert, organisiert und exekutiert.

Wie wäre es dann zu rechtfertigen, dass zum Beispiel das Bundesfinanzministerium im  1935 erbauten, ehemaligen Reichsluftfahrtministerium Hermann Görings untergebracht ist? Zu DDR-Zeiten war das Megagebäude das »Haus der Ministerien«.

HAUS DER KUNST Wer im Münchener Haus der Kunst heute eine Ausstellung besucht, betritt dasselbe Gebäude, das zur Hitlerzeit »Haus der Deutschen Kunst« hieß. Erbaut wurde es von 1933 bis 1937. »Der Führer« hat höchstpersönlich bei der Planung mitgemischt, und das »Deutsch« im Namen des Hauses wurde groß geschrieben. Was dort gezeigt wurde, sollte allein Kunst Deutschlands sein, also »Deutsche Kunst«. Längst können wir in diesem auf den ersten Blick als NS-Bau erkennbaren Haus fortschrittliche, Moderne, Internationale (großes I) Kunst bewundern.

Stahlhelme gab es schon vor den Nazis, es gibt sie nach den Nazis, es wird sie weiter geben. Stahlhelme erfüllen eine Schutzfunktion für ihren Träger. Sie sind eine Art Instrument und kein ideologisches Symbol, und die Form des Bundeswehr-Stahlhelms ist bewusst anders als der Stahlhelm von Hitlers Wehrmacht gewählt.

Dass die Strategie des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan von Anfang an falsch war, habe auch ich schon ab 2003 geschrieben, gesagt und begründet.

Fackelzüge sind ebenfalls kein Symbol, das die Nazis erfunden oder erstmals benutzt hätten, um Feierlichkeit (im Sinne der Organisatoren) zu inszenieren. Feuer in der Dunkelheit bewegen die Menschen seit jeher. Das hat mit Psychologie und Anthropologie zu tun, nicht mit Ideologie. Sie sind ebenfalls im weiteren Sinne Instrumente – der Erhabenheit sowie des Aufgehens von Einzelnen in der Gemeinschaft. Das Ich wird emotional Teil des Wir. Ja, das kann missbraucht werden. Aber wo war beim erwähnten Großen Zapfenstreit Missbrauch?

LEGITIMATION Man ehrte die Soldaten und Soldatinnen (also »die Soldaten«), man dankte ihnen. Wer war »man«? Die Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Legitimation? Regelmäßige, demokratische Wahlen, zu denen Regierungswechsel gehören. So wie dieser Tage und Wochen seit dem 26. September 2021. Es gefalle oder nicht. Wir haben diese Repräsentanten gewählt, und diese Repräsentanten danken denen, die in unserem Auftrag – so funktioniert indirekte Demokratie – in Afghanistan waren. Es waren meistens die abgewählten Repräsentanten, aber die neu gewählten würden es nicht anders machen. Zurecht.

Dass die Strategie des Bundeswehreinsatzes von Anfang an falsch war, habe auch ich schon ab 2003 geschrieben, gesagt und begründet. Die deutschen Soldaten – ebenso wie die amerikanischen und andere – wurde für eine falsche Strategie ge- beziehungsweise sogar missbraucht. Aber nicht aus bösem Willen, sondern aus politischer Unfähigkeit. Das ist tragisch, aber eben nicht verbrecherisch, denn es geschah wirklich in bester Absicht.

Gerade angesichts dieser Tatsache war es besonders notwendig, die Soldaten zu ehren und ihnen zu danken. Mehr Selbstkritik der redenden Politiker wäre angebracht gewesen. Gewiss. Aber das hat nichts mit der Gedankenbrücke zur NS-Zeit zu tun.

INDIVIDUUM Das Aufgehen des Ichs im Wir ist oft problematisch, erst recht in einer liberalen Gesellschaft, in welcher das Individuum im Mittelpunkt steht. Doch ohne ein Wir kann kein Ich dauerhaft leben und überleben. Mit »Kollektivismus« und Gefühlsduselei hat das nichts zu tun, aber mit analytischem Realismus. Irgendeinen Kitt braucht jede Gesellschaft. Ein Kitt, nicht der einzige, ist Tradition.

Wenn zur Tradition derjenigen, die geehrt werden sollen, also die Soldaten, der Große Zapfenstreit gehört, dann ist es für Nicht-Soldaten eine Selbstverständlichkeit, diese Tradition zumindest zu tolerieren, wenngleich nicht unbedingt auch für sich akzeptieren. Wenn, ja, wenn unsere Gesellschaft eine Offene Gesellschaft sein will.

Nicht alles, was einem heute nicht passt, ist automatisch »nazistisch«.

Wenn A durch die Tradition von B nicht in seinen Rechten behindert oder gestört wird, muss A die Tradition von B tolerieren im Sinne von »ertragen«, selbst wenn er sie nicht akzeptiert, im Sinne von »für sich übernehmen«. Ist das nicht der Fall, wankt die Offenheit der Offenen Gesellschaft. Wer A zu Pluralität und Diversität sagt, muss auch B sagen, also ja zum Großen Zapfenstreich.

Ein Letztes: Nicht alles, was einem heute nicht passt, ist automatisch »nazistisch«. Wer die Vokabel »Nazi« (und ähnliche) inflationiert, bewirkt langfristig unfreiwillig ein Verkennen und Unterschätzen des wahren Charakters nationalsozialistischen Denkens und Handelns. Diese Fehleinschätzung hat ihrerseits deutsche Tradition: Sie führte zu am 30. Januar 1933 zur Machtübergabe an Adolf Hitler und seine Mitverbrecher. Wer von uns will etwa »nützlicher Idiot« für neue Nazis sein?

Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Zuletzt erschien sein Buch »Wir waren Glückskinder – trotz allem«

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Meinung

Für das Leben entscheiden

Die Fortführung der Kampfhandlungen in Gaza gefährdet das Leben der Geiseln und den moralischen Fortbestand Israels. Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden

von Sabine Brandes  16.09.2025

Kommentar

Das Geraune von der jüdischen Lobby

Der Zürcher »Tages-Anzeiger« befasst sich kritisch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der die Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese an der Uni Bern gefordert hatte. Dabei war diese Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Meinung

Lasst uns nicht allein!

Nach dem Canceln von Lahav Shani durch das Flandern-Festival in Gent befürchtet Maria Ossowski, dass Juden Europa jetzt verlassen wollen

von Maria Ossowski  11.09.2025

Meinung

Gent: Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Meinung

Wenn Wutausbrüche Diplomatie ersetzen

So verständlich der Frust ist, tut sich Israels Regierung mit ihrer aggressiven Kritik an westlichen Regierungen und ihren Einreiseverboten für europäische Politiker keinen Gefallen

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Meinung

Bitte mehr Sorgfalt, liebe Kollegen!

Weltweit haben Medien die Geschichte verbreitet: In Gaza sei ein hilfesuchendes Kind von Israelis erschossen worden. Es stimmt nur nicht, wie sich nun herausstellt. Von professionellen Journalisten darf man eigentlich mehr erwarten

von Susanne Stephan  08.09.2025

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Einseitig, fehlerhaft, selbstgerecht

Die »International Association of Genocide Scholars« bezichtigt Israel des Völkermords. Die Hamas spricht sie von jeder Verantwortung für die Lage in Gaza frei. Eine Erwiderung

von Menachem Z. Rosensaft  05.09.2025