Boris Itkis

»No-Go-Areas« für Juden: Die Geschichte wiederholt sich

Boris Itkis Foto: privat

Boris Itkis

»No-Go-Areas« für Juden: Die Geschichte wiederholt sich

Schon vor 100 Jahren konnte der deutsche Staat nicht alle seine Bürger schützen

von Boris Itkis  25.11.2024 14:34 Uhr

Die Aussage der Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik ließen viele aufhorchen: Juden und queere Menschen, die sich als solche zu erkennen geben, sollten in bestimmten Stadtteilen der Hauptstadt besonders aufmerksam sein. Beschönigend als Vorsichtsmaßnahme formuliert, offenbaren diese Worte in Wahrheit ein Eingeständnis, dass der Staat seiner Kernaufgabe, dem Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger, nicht mehr vollumfänglich gerecht wird.

Was zunächst wie ein lokales Berliner Problem erscheint, offenbart bei genauerem Hinsehen eine beunruhigende gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die Parallelen zur Weimarer Republik aufweist: Auch damals begann der Verfall demokratischer Institutionen nicht mit einem lauten Knall, sondern mit der schleichenden Akzeptanz von Unrecht. Nach vereinzelten antisemitischen Übergriffen, zum Beispiel in universitären Kreisen, entstanden ab Mitte der 1920er Jahre »No-Go-Areas« für Juden. Bestimmte Badeanstalten, Restaurants oder Ferienorte verwehrten Juden den Zutritt – Jahre bevor Nationalsozialisten die Macht übernahmen und die staatliche Verfolgung einsetzte.

Die zunehmende Verdrängung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem öffentlichen Raum, war damals wie heute ein Warnsignal für die Erosion staatlicher Schutzpflichten. Wenn der Staat nicht mehr die Sicherheit aller Bürger garantieren kann, ist dies kein isoliertes Problem einer Minderheit – es ist ein Anzeichen für den Beginn einer schleichenden Demontage von demokratischen Grundrechten.

Die Frage ist, wie wir als Staat und Gesellschaft dieser Entwicklung entschlossen entgegentreten können.

Allein im Jahr 2023 wurden bundesweit 5.164 antisemitische Straftaten registriert. Dies entspricht in etwa einer Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr. Besonders seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Bedrohungslage drastisch verschärft. Das kürzlich stattgefundene Pogrom auf Fußballfans in Amsterdam, bei dem propalästinensische Gruppen systematisch Jagd auf Jüdinnen und Juden machten und mehrere Menschen verletzt wurden, hat viele jüdische Menschen an dunkle Kapitel der europäischen Geschichte erinnert, die sie überwunden geglaubt hatten. Auch in Berlin scheint die Gefahr solcher Szenen wieder real.

Die Zeit des Wegduckens muss vorbei sein. Die Frage ist nicht mehr, ob wir handeln müssen, sondern wie wir als Staat und Gesellschaft dieser Entwicklung entschlossen entgegentreten. An erster Stelle sollte die konsequente Durchsetzung der Rechtsordnung durch staatliche Institutionen stehen, begleitet von systematischer Präventionsarbeit. All das bedarf jedoch eines klaren politischen Willens und der Bereitstellung benötigter Mittel.

Versagen wir bei dieser Aufgabe, droht die schleichende Etablierung rechtsfreier Räume und damit der Anfang vom Ende unserer liberalen Gesellschaftsordnung. Die Geschichte lehrt uns: Wo Juden nicht mehr sicher leben können, ist bald niemand mehr sicher.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und freiberuflicher Journalist.

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Meinung

Wir Jungen müssen die Gemeinden stärker mitgestalten

Jüdische Studierende sind vom wachsenden Antisemitismus besonders betroffen. Gleichzeitig sind junge Juden kaum in den Gemeindevertretungen repräsentiert. Das muss sich ändern

von Ron Dekel  30.11.2025

Meinung

Der Weg zum Frieden in Nahost führt über Riad

Donald Trump sieht in Saudi-Arabien zunehmend einen privilegierten Partner der USA. Die Israelis müssen gemäß dieser neuen Realität handeln, wenn sie ein Abkommen mit dem mächtigen Ölstaat schließen wollen

von Joshua Schultheis  01.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Wenn ein Botschafter Schoa-Überlebende zu Lügnern erklärt

Tom Rose, neuer US-Botschafter in Warschau, hat in einer Rede die Komplizenschaft Tausender Polen während des Holocaust bestritten. Das ist fatal für das Ansehen der USA

von Menachem Z. Rosensaft  29.11.2025

Meinung

Die Flucht der arabischen Juden

Einst lebten viele Juden in der muslimischen Welt. Es ist wichtig, an ihre persönlichen Geschichten von Exil und Mut zu erinnern

von Tair Haim  27.11.2025

Meinung

Die polnische Krankheit

Der Streit um einen Tweet der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt, dass Polen noch immer unfähig ist, sich ehrlich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen

von Jan Grabowski  26.11.2025

Meinung

Ein Friedensplan, der keiner ist?

Die von den Amerikanern vorgelegten Punkte zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sind kein fairer Vorschlag, sondern eine Belohnung für den russischen Aggressor

von Alexander Friedman  24.11.2025

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025