Kommentar

Judith Butler ist nicht irgendwer

Judith Butler Foto: IMAGO/Pond5 Images

Am Sonntagabend trat Jonathan Glazer bei der Oscar-Preisverleihung auf die Bühne und nahm die Auszeichnung für seinen Film über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß entgegen.

In seiner Dankesrede sagte er Folgendes: »Unser Film zeigt, wohin die Entmenschlichung in ihrer schlimmsten Form führt. Sie hat unsere gesamte Vergangenheit und Gegenwart geprägt. Gerade jetzt stehen wir hier als Männer, die es zurückweisen, dass ihr Jüdischsein und der Holocaust von einer Besatzung missbraucht werden, welche für viele unschuldige Menschen zu Konflikten geführt hat. Egal, ob es um die Opfer des 7. Oktober in Israel oder die Opfer in Gaza geht: Alle sind sie Opfer von Entmenschlichung.« Glazer bekam dafür lauten Beifall aus dem Publikum.

Schon vor einigen Wochen hatte sich Judith Butler in Paris zum Thema 7. Oktober geäußert. Wie Glazer ist Butler nicht irgendwer. Sie gehört zu den wenigen Intellektuellen der Neuzeit, die unsere Perspektive auf gesellschaftliche Themen nachhaltig verändert haben. In ihrem Fall, wie wir über Identität sprechen. Die Facette »Gender«, also die Geschlechtsidentität, in der wir leben, ist eine, die besonders emotional diskutiert wird. Denn wie wenige andere Aspekte prägt das Geschlecht unser Leben.

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Egal, ob man sich je mit Gender Theorie beschäftigt hat, ob man sprachliche Anpassungen und Pronomen für das Fortschreiten einer gefährlichen Ideologie hält oder sich durch das Aufbrechen binärer Geschlechterzuschreibungen sichtbarer fühlt: Die Amerikanerin Judith Butler hat unser Denken und Sprechen über diese Themen grundlegend verändert. In vielerlei Hinsicht geben uns radikale Theorien - ob wir ihnen nun zustimmen oder nicht - die Möglichkeit, mit einem anderen Blick auf uns selbst und die Welt zu schauen.

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Aber Butler macht sich seit fast 15 Jahren auch in einer weiteren Disziplin einen Namen und hat das Sprechen darüber auch dort verändert: Explizit als jüdische Person positioniert sie sich gegen Israel – und bedient sich antisemitischer Rhetorik. Diese Sprache ist an sich nicht neu. Sie wurde von Butler jedoch besonders perfide kürzlich auf einer Veranstaltung in Paris verwendet, von der bislang nur ein rund zwei Minuten langer Clip in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde. »Der Aufstand vom 7. Oktober war ein Akt des bewaffneten Widerstands. Es war kein terroristischer Angriff und keine antisemitische Attacke.«

Das Entsetzen war groß. Doch umgehend wurde Butler von ihren Anhängern zugutegehalten, man müsse die Aussagen im Kontext ihrer Arbeit und ihres Lebenswerks sehen.

Doch das ergibt keinen Sinn, es sei denn, man misst mit zweierlei Maß. Denn der antisemitische Doppelstandard beginnt bereits an dem Punkt, an dem die Forderung in den Raum gestellt wird, Juden mögen sich doch bitte von ihren eigenen Gefühlen distanzieren und wo gesagt wird, man müsse sich aus »objektiver Perspektive« mit den Geschehnissen befassen und den Kontext einer solchen extremen Gewalttat verstehen. Seit wann funktioniert Humanismus so?

Umstritten: die Philosophin Judith ButlerFoto: Uwe Steinert

Man könnte an der aktuellen Situation tatsächlich vieles diskutieren. Aber das geht nur unter der Prämisse, dass der 7. Oktober als das erkannt wird, was er für die Israelis (übrigens auch für die nichtjüdischen Staatbürger) und für Juden auf der ganzen Welt ganz offensichtlich war: ein genozidales Massaker aus antisemitischen und misogynen Motiven heraus. Ein terroristischer Akt, der bei Juden weltweit eine Form der kollektiven Sekundärtraumatisierung ausgelöst hat. Und eine extrem physische Erfahrung, sogar im passiven Erleben.

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Stattdessen postuliert Butler eine Perspektive, die Gewalt zu einem theoretischen Konstrukt reduziert und das Erleben der Opfer ausklammert. Genau an dieser Schnittstelle findet das entmenschlichende Motiv der antisemitischen Vernichtungssehnsucht seine Anknüpfung. Wo Juden zur abstrakten Hülle werden, werden die Auswirkungen antisemitischer Gewalt - sogar dann, wenn sie eine genozidale Dimension annehmen - zu einer vernachlässigbaren Variable in einer Gleichung, die (so pervers das auch klingt) am anderen Ende nicht ohne die Juden als Verursacher auskommt.

Absurderweise wird diese Gleichung besonders häufig von säkularen jüdischen Personen aus dem angloamerikanischen Raum genutzt. Jonathan Glazer und Judith Butler sind nur zwei Beispiele. Beide haben das Privileg genossen, zeitlebens nicht mit Alltagsantisemitismus konfrontiert gewesen zu sein und auch nicht mit den unmittelbaren gesellschaftlichen Spätfolgen der Schoa.

Es ist ein beunruhigender Cocktail, wenn theoretische Komplexität und extreme Verkürzung zusammentreffen und antisemitische Deutungsangebote willentlich in Kauf genommen und durch die eigene Sprecherposition legitimiert werden.

Butler - eine Person, die die normativ verankerte Binarität der Geschlechter ablehnt, sondern das Geschlecht als einen »performativen Akt« einordnet, nutzt in ihren Aussagen den Claim »as a Jew« als eine Performance, die markiert, dass Butler auf Basis der Selbstzuschreibung dazu befugt ist, ein moralisches Urteil auszusprechen.

»As a Jew«: Denn um über Israel und die Palästinenser zu sprechen, bedient Butler diese Sprechposition. Und auch nur dann. In dem Moment, in dem Butler sich selbst dieses Label anheftet, werden ihre Aussagen immun gegen Kritik.

Jonathan Glazer (r) und James Wilson bei der Oscar-Preisverleihung am Sonntagabend in Los AngelesFoto: IMAGO/ZUMA Wire

Was noch viel schlimmer ist: Jegliche Parameter im Sinne einer den Menschen und sein Erleben in das Zentrum der Debatte rückenden Perspektive verlieren scheinbar an Gültigkeit. Der einzig legitime moralische Impetus, den man als jüdische Person dieser Logik zufolge haben darf, ist, sich auf Basis der eigenen (scheinbar überwundenen Verfolgungsgeschichte) nun mit der eigenen Täterschaft auseinanderzusetzen. Und das alles, als gäbe es im israelisch-palästinensischen Konflikt nur ein Narrativ, nur eine Ursache.

Zudem spielt die politische Positionierung kaum eine Rolle, denn die »as a Jew«-Position entfaltet vor allem Wirkung in der Abgrenzung gegenüber andere Juden. Der moralische Imperativ suggeriert, dass alle anderen Juden eine homogene Haltung hätten.

Der innerjüdische Streit darüber, ob ein jüdischer Nationalstaat der Inbegriff jüdischer Emanzipation ist oder nicht, ist nicht neu. Auch schon die Bundisten Osteuropas mussten jedoch einsehen, dass die Emanzipation dessen, was das Kollektiv konstituiert, ob es dem Zeitgeist nach Sprache, Traditionstreue oder Nationalstaat ist, egal war. Kein Jude wurde als solcher nur deshalb nicht mehr verfolgt, nur weil er sich von seiner Identität gelöst hatte oder sich gegen andere Juden positionierte.

Das Judentum nicht als ethnische oder historische Kategorie zu benennen, sondern als politische Position oder Konstrukt zu verstehen, könnte ein versuchter Akt der Selbstermächtigung sein. Er hat sich aber auch in der Vergangenheit schon als wenig wirkungsvoll und als naiv erwiesen.

In dem emanzipatorischen Bestreben, sich von jeglichen gesellschaftlichen und normativen Zuschreibungen zu befreien, wirkt es daher umso regressiver, sich »as a Jew« in einen Diskurs einzumischen, der vor allem darauf abzielt, jüdische Selbstbestimmung in ihrer kontemporären Ausprägung abzuschaffen.

Antizionistische Juden beanspruchen einen Raum, in dem kein Platz mehr bleibt für diejenigen, die sich gemeinsam für nachhaltige Lösungen engagieren, denen zufolge Israelis und Palästinenser nicht ihre Daseinsberechtigung verlieren und nicht Kräfte gestärkt werden, die Terror nicht als bewaffneten Widerstand bezeichnen

Sich für das Existenzrecht Israels, für die Solidarität mit der Bevölkerung und gegen repressive, frauen- und queerfeindliche, islamfaschistische Terrorregime auszusprechen, gegen systematische Vergewaltigung, Verstümmelung, Verschleppung und Ermordung israelischer Frauen sowie jener, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, schließt die Solidarisierung mit der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht aus. Sie bestätigt viel eher die Fähigkeit, Gleichzeitigkeiten zu verstehen und auszuhalten.

Was Judith Butlers Aussagen zudem auch gefährlich macht, ist, dass sie den Nährboden für den ideologischen Kitt bereiten, der antisemitische Glaubenssätze lagerübergreifend miteinander verbindet: an der Spitze der Macht steht angeblich immer der Jude. Ein solcher »Konsens der Antisemiten« kann in einer angespannten politischen Lage zum entscheidenden Kipppunkt werden. Wenn Antisemitismus kleinster und möglicherweise einziger gemeinsamer Nenner zwischen politischen Lagern wird, ist der Weg in den Faschismus geebnet.

Menschlich kann nur sein, wer das Jüdische abschafft: Das ist die Essenz des antisemitischen Glaubenssystems. Und es ist genau diese Logik, die Judith Butlers Aussagen antisemitisch macht. Sie sind auch nicht deswegen nicht antisemitisch, weil eine Jüdin sie getätigt hat. Sondern einzig und allein aufgrund ihres Inhalts.

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