Nicole Dreyfus

Juden zweiter Klasse

Der Fall schlägt Wellen in der Schweiz: Ein 39-jähriger Mann aus dem Großraum Zürich möchte nach orthodoxen Regeln zum Judentum übertreten. Zsolt Balkanyi-Guery ist ungarischer Herkunft, das Judentum ist ihm nicht fremd. Das war im Jahr 2014. Der Übertritt erfolgt vor einem lokalen rabbinischen Gericht vor drei orthodoxen Rabbinern, die vom israelischen Oberrabbinat anerkannt sind.

Später wird Balkanyi-Guery der erste jüdische Armeeseelsorger der Schweiz. Er heiratet eine jüdische Frau, wird Vater zweier jüdischer Kinder. Einige Jahre später erwägt er, Alija zu machen, aber der Übertritt wird ihm zum Stolperstein. Die israelischen Autoritäten erkennen den Übertritt offenbar nicht an, obwohl er von einem orthodoxen rabbinischen Gericht (Beit Din) vorgenommen wurde, dessen Rabbiner alle vom israelischen Oberrabbinat akzeptiert und legitimiert sind.

Selbst die Bestätigung des Übertritts durch den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Pinchas Goldschmidt, hilft nicht weiter.

In diesem Moment beginnt für Zsolt Balkanyi-Guery, der heute 48 Jahre alt ist, ein Spießrutenlauf. Unzählige Abklärungen, darunter auch die Bestätigung des Übertritts durch den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Pinchas Goldschmidt, helfen da nicht weiter. Das israelische Innenministerium will den Antrag auf Einwanderung nach Israel nicht bearbeiten, weil man den Übertritt dort offenbar nicht anerkennt. Schriftlich bestätigen will das niemand, begründen noch weniger. Dies beweist Willkür und Beliebigkeit der Entscheidungen.

Balkanyi-Guery ist heute in zahlreichen jüdischen Vereinen und in seiner Gemeinde aktiv, und er leitet eine der größten jüdischen Schulen des Landes. Der tief verwurzelte Schweizer Jude ist für Israel nicht jüdisch. Wieso das so ist, kann und will niemand erklären.

Zsolt Balkanyi-Guery ist kein Einzelfall. Dass orthodoxe Übertritte de facto abgelehnt werden, passiert regelmäßig.

Es geht nicht nur um die reine Frage der Staatsbürgerschaft, sondern um weit mehr: dass Bürokraten über die Identität und das Schicksal eines Menschen entscheiden. Das zermürbt, und es zerstört die Beziehung Israels zur Diaspora.

Zsolt Balkanyi-Guery ist kein Einzelfall. Dass orthodoxe Übertritte, die zuerst vom israelischen Oberrabbinat und danach vom Jerusalemer Innenministerium, das seit mehr als einem Jahrzehnt größtenteils unter der Kontrolle der ultraorthodoxen Schas-Partei steht, de facto abgelehnt werden, ist keine Seltenheit. So wies das Ministerium in der Vergangenheit Anträge von Jüdinnen und Juden, die in der Diaspora zum Judentum übergetreten sind, mit der Begründung zurück, dass diese nicht im »Einklang mit jüdisch-orthodoxem Recht« erfolgt seien.

Wer in Europa nach orthodoxem Ritus übertritt, ist neuerdings nicht jüdisch genug, israelischer Staatsbürger zu sein?

Dürfen künftig nur noch Juden einwandern, die dem israelischen Innenministerium orthodox genug sind? Wer in Europa nach orthodoxem Ritus und dessen entsprechenden strengen Regeln zum Judentum übertritt, ist neuerdings nicht jüdisch und damit nicht gut genug, israelischer Staatsbürger zu sein?

Mit anderen Worten: Nur noch Personen, die so übertreten, wie es das israelische Innenministerium erwartet, also vermutlich ultraorthodox, sind willkommen.

Die seit bald anderthalb Jahren andauernden Proteste in Israel beweisen: Ein auf demokratischen Grundpfeilern aufgebauter Staat erodiert komplett, wenn demokratisch gewählte Institutionen bestehende staatliche Gesetze und teils auch jahrtausende­alte religiöse Regeln nach eigener Manier dogmatisch interpretieren.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Zürich.

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Hollywood

80 Jahre Goldie

Die quirlige Schauspielerin feiert ihren runden Geburtstag – und ist nicht zu bremsen

von Barbara Munker, Sophie Albers Ben Chamo  23.11.2025

TV-Tipp

TV-Premiere: So entstand Claude Lanzmanns epochaler Film »Shoah«

Eine sehenswerte Arte-Dokumentation erinnert an die bedrückenden Dreharbeiten zu Claude Lanzmanns Holocaust-Film, der vor 40 Jahren in die Kinos kam

von Manfred Riepe  21.11.2025

USA

Zwölf Familien, eine Synagoge

Die meisten Juden in Nordamerika leben in Großstädten, auf dem Land gibt es nur wenige Gemeinden – aber gerade dort wächst eine besonders starke Identität. Ein Besuch in der Kleinstadt Rome im Bundesstaat Georgia

von Katja Ridderbusch  21.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  21.11.2025

Judenhass

»Wir wollen keine Zionisten«: Mamdani reagiert auf antisemitische Kundgebung vor Synagoge

Die Teilnehmer schrien unter anderem »Tod den IDF!« und »Globalisiert die Intifada!«

von Imanuel Marcus  21.11.2025 Aktualisiert

New York

Neonazi wollte als Weihnachtsmann jüdische Kinder mit Süßigkeiten vergiften

Der Antisemit soll zudem »Interesse an einem Massengewaltakt« gezeigt und Anleitungen zum Bau von Bomben geteilt haben. Nun wird er angeklagt

 21.11.2025

Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen. Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

von Jürgen Prause  20.11.2025