Rabbinerin Gesa Ederberg

Ein Corona-Gedenktag und viele offene Fragen

Rabbinerin Gesa Ederberg Foto: imago images/tagesspiegel

Rabbinerin Gesa Ederberg

Ein Corona-Gedenktag und viele offene Fragen

Geht es nur um die, die »an Corona« verstorben sind? Was ist mit denen, die »mit« oder »wegen« Corona« starben?

von Rabbinerin Gesa Ederberg  15.04.2021 08:04 Uhr

Immer dann, wenn in den USA eine unvorstellbare neue Anzahl an Corona-Toten erreicht wurde, gedachte ihrer dort die Öffentlichkeit. Aber geht es um diese Zahlen, die wir uns gar nicht mehr vorstellen können? Und geht es nur um die, die »an Corona« verstorben sind?

Was ist mit denen, die »mit« oder »wegen« Corona« starben? Die junge Frau, die Suizid beging – am Ende war es möglicherweise die Angst vor der Krankheit, die Erfahrung der Einsamkeit. Oder der alte Mann, schon in den 90ern, von dem wir dachten, er lebt noch bis 120, und dann wurde er immer müder, bis er irgendwann sagte: »Ich will nicht mehr.«

trauern Sind sie mitgezählt? Geht es auch ums Trauern, Verabschieden, die Einsamkeit auf der Intensivstation oder im Altersheim, die wenigen Menschen, die auf dem Friedhof dabei sein konnten? Und eine richtige Schiwa, zu Hause, mit Essen und vielen Menschen, gab es auch nicht. Lässt sich das nachholen, schon gar mit einem eigenen nationalen Gedenktag?

Im Judentum haben wir einige Gedenktage – meist an Pogrome, an Unglück durch Menschenhand. Der herausragende ist Tischa beAw: der Gedenktag an die Tempelzerstörung. Im Laufe der Geschichte kamen andere Katastrophen hinzu; es gab sogar Überlegungen, das Gedenken an die Schoa auf Tischa beAw zu verlegen.

kinot So erzählen die Kinot, die Klagelieder, die wir zu Tischa beAw lesen, auch nicht nur von der Tempelzerstörung, sondern von späteren Pogromen, den Kreuzfahrern im Mittelalter – und auch von modernen Katastrophen. Vielleicht werden wir in Zukunft auch eine Kina für die Corona-Toten lesen?

Für Antworten ist es noch zu früh. Zeitgeschehnisse erklären sich letztlich erst im Rückblick.

Geht es beim Corona-Gedenktag am 18. April um ein einmaliges Innehalten? Oder soll es zu einem festen Termin im Kalender werden? Bei all diesen Fragen merken wir: Die nächste ist die nach einer Bewertung. Welche Rolle spielt die Pandemie in unserer Gegenwart, welche Rolle wird sie in unserer Zukunft spielen – und dann in der erzählten und erinnerten Geschichte?

Für Antworten ist es noch zu früh. Zeitgeschehnisse erklären sich letztlich erst im Rückblick. Wenn ein Corona-Gedenktag es schafft, diese Fragen offenzuhalten, keine schnellen Antworten zu finden, sondern uns alle spüren zu lassen, wie wenig wir wissen und wie viel noch unklar ist, dann kann ein solcher Tag ein wichtiger Stein auf dem Weg in und aus der Pandemie sein.

Die Autorin ist Gemeinderabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Kommentar

Der »Tages-Anzeiger« und das Geraune von der jüdischen Lobby

Die Zeitung unterstellt, erst eine Intervention des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes habe zur Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese durch die Uni Bern geführt. Dabei war die Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Meinung

Lasst uns nicht allein!

Nach dem Canceln von Lahav Shani durch das Flandern-Festival in Gent befürchtet Maria Ossowski, dass Juden Europa jetzt verlassen wollen

von Maria Ossowski  11.09.2025

Meinung

Gent: Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Meinung

Wenn Wutausbrüche Diplomatie ersetzen

So verständlich der Frust ist, tut sich Israels Regierung mit ihrer aggressiven Kritik an westlichen Regierungen und ihren Einreiseverboten für europäische Politiker keinen Gefallen

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Meinung

Bitte mehr Sorgfalt, liebe Kollegen!

Weltweit haben Medien die Geschichte verbreitet: In Gaza sei ein hilfesuchendes Kind von Israelis erschossen worden. Es stimmt nur nicht, wie sich nun herausstellt. Von professionellen Journalisten darf man eigentlich mehr erwarten

von Susanne Stephan  08.09.2025

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Einseitig, fehlerhaft, selbstgerecht

Die »International Association of Genocide Scholars« bezichtigt Israel des Völkermords. Die Hamas spricht sie von jeder Verantwortung für die Lage in Gaza frei. Eine Erwiderung

von Menachem Z. Rosensaft  05.09.2025

Meinung

Vuelta-Radrennen: Israelhasser ohne Sportsgeist

Bei der spanischen Radtour ist der israelische Rennstall Ziel von Störaktionen. Nun forderte der Rennleiter das Team auf, nicht mehr anzutreten. Wenigen Fanatiker gelingt es, Israel vom Sport auszuschließen - wie so oft in der Geschichte

von Martin Krauss  04.09.2025

Kommentar

Gaza: Das falsche Spiel der Vereinten Nationen

Die UN ist kein neutraler Akteur im Gazakrieg. Ihre Vertreter scheuen sich nicht, irreführende Zahlen in Umlauf zu bringen und die Hamas als legitime politische Kraft zu präsentieren

von Jacques Abramowicz  03.09.2025