Meinung

Die Erforschung von Antisemitismus braucht Haltung und Strukturen

Mitglieder der »Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung« (IIA) der Universität Trier, darunter die Autoren dieses Textes: Lennard Schmidt (1. v. l.) und Marc Seul (2. v. l.) und Salome Richter (2. v. r.) Foto: Sarah Riefer

Antisemitismusforschung wird oft als zahnlos verspottet – als eine Wissenschaft, die sich in endlosen Begriffsdiskussionen verliert, unbequeme Themen meidet und selten die Realität der Bedrohung trifft. Leider ist an dieser Kritik etwas dran. Dass Antisemitismus heute noch immer als Problem der Vergangenheit und der »Ewiggestrigen« wahrgenommen wird, liegt auch an den Versäumnissen der etablierten Forschung.

Über Jahre war sie verstaubt und ohne Bezug zur antisemitischen Wirklichkeit der Gegenwart. Sie widmete sich mit Vorliebe der Geschichte oder der extremen Rechten. Die längst offenkundigen neuen Allianzen der Judenfeindschaft wurden häufig ignoriert – was sich eindrücklich daran zeigt, dass nicht wenige etablierte Forscherinnen und Forscher sich im Angesicht der weltweiten antisemitischen Mobilisierung im Nachgang des 7. Oktobers 2023 zwischen Schweigen und Relativierung bewegen.

Der Antisemitismus der Gegenwart muss analysiert, benannt und kritisiert werden – ohne blinde Flecken.

Solche Reaktionen sind kein Zufall, sondern Symptom eines zu lange vorherrschenden modus operandi der Antisemitismusforschung in Deutschland. Heraus kam viel Papier und wenig, was tatsächlich zur Bekämpfung des Antisemitismus beitrug. Die Marginalisierung und Nicht-Beachtung kritischer Studien hat dabei Tradition – gerade solcher von Jüdinnen und Juden, wie beispielsweise Leon Poliakov, Jean Améry und Joseph Wulf.

Aber das muss nicht so sein. Antisemitismuskritische Forschung kann ein scharfer Stachel in einer Debatte sein, in der sich allzu oft Unwissen und Ressentiment gegenseitig verstärken. Sie muss dazu aber mehr leisten als den nächsten Sammelband für den angestaubten Regalmeter zu liefern. Antisemitismus als Forschungsgegenstand ernst zu nehmen heißt, die Forschungs- und die darauf aufbauende Transferarbeit so auszurichten, dass sie – direkt oder indirekt – zur Abschaffung ihres Gegenstands beiträgt.

Das heißt: Antisemitismus der Gegenwart analysieren, benennen und kritisieren – ohne blinde Flecken, orientiert an der realen Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden sowie an den Ideologien und Akteurinnen und Akteuren, die zentral für die Verbreitung und Normalisierung von Antisemitismus sind.

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Lange Zeit wurde diese Arbeit von versprengten Forscherinnen und Forschern in prekären Lagen geleistet, jedoch größtenteils ignoriert. In den vergangenen Jahren ist Bewegung in die deutsche und internationale Antisemitismusforschung gekommen. Neue Institutionen wie das Tikvah Institut, das London Centre for the Study of Contemporary Antisemitism oder das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen setzen neue Maßstäbe. Auch Projekte wie unseres, die Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung (IIA) an der Universität Trier, stellen sich der Herausforderung, Antisemitismus in seinen gegenwärtigen Formen zu erfassen, relevante Fragen zu stellen – und wirksam zu werden.

Doch diese Entwicklungen in der Forschungslandschaft können noch nicht breit in die Gesellschaft wirken, denn dafür müssen die strukturellen Rahmenbedingungen stimmen. Viele politische Akteurinnen und Akteure haben diese Problemlage inzwischen erkannt. Über Parteigrenzen hinweg ist Antisemitismusbekämpfung Konsens. Die Realität sieht dennoch oft anders aus: Antisemitismuskritische Projekte und Institutionen in Forschung und Bildungsarbeit müssen ständig unter unsicheren Bedingungen agieren und mit befristeten Förderungen, prekären Anstellungen und mangelnder Planungssicherheit kämpfen.

Statt Projektlogik braucht es verlässliche und nachhaltige Förderung von Institutionen und Strukturen.

Das wirkt sich nicht nur auf die involvierten Personen negativ aus und führt zu einem beständigen Brain-Drain. Es beeinflusst auch die inhaltliche Arbeit und ihre Schwerpunktsetzungen. Allzu häufig werden nicht jene Maßnahmen umgesetzt, die fachlich geboten oder akut notwendig wären, sondern eher solche, die sich gut in Förderanträgen abbilden lassen.

Damit der Kampf gegen Antisemitismus wirksam sein kann, braucht es also nicht nur den Willen in Forschung und Bildungsarbeit, sondern auch ein tragfähiges Fundament: statt Projektlogik verlässliche und nachhaltige Förderung von Institutionen und Strukturen.

Denn der Kampf gegen ein jahrtausendealtes Ressentiment kann keine Angelegenheit des guten Willens allein sein – er braucht über Haltung hinaus Ressourcen und verlässliche Strukturen.

Die Autoren sind Gründungsmitglieder und wissenschaftliche Mitarbeiter der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung (IIA) an der Universität Trier.

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