Kommentar

Der Ukraine-Krieg überlagert die Pluralität der Erinnerungen

Dmitrij Belkin Foto: Foto Kirsch

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Der Ukraine-Krieg überlagert die Pluralität der Erinnerungen

Die Auffassung, dass jeder nach seiner Fasson dem Zweiten Weltkrieg gedenkt, wurde durch Russlands Einmarsch in die Ukraine zerstört. Lenin- und Roter Stern-Orden jüdischer Veteranen und Veteraninnen und ihre »hundert Gramm« in Erinnerung an die gefallenen Kameraden wirken deplatziert

von Dmitrij Belkin  08.05.2025 12:30 Uhr

Der 8. Mai 1945 war der Tag, an dem die bedingungslose Kapitulation aller Wehrmachtsteile – Heer, Marine, Luftwaffe – in Kraft trat.

Der Zweite Weltkrieg kam in Europa zu Ende. Die erste Unterzeichnung fand am 7. Mai 1945 im französischen Reims statt. Von der Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges gegen Nazideutschland trug und die meisten Opfer zu beklagen hatte, wurde eine zweite Unterzeichnung der Kapitulation gefordert. Diese fand im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst statt. Die Zeremonie ging am späten Abend vonstatten – in Moskau war das bereits der nächste Tag, nämlich: Der 9. Mai 1945.

Dieser Tag wurde in der Sowjetunion als Tag des Sieges gefeiert, während in Deutschland am 8. Mai der Befreiung erinnert wurde.

Achtzig Jahre später stehen wir auf Ruinen der Nachkriegsordnung, verursacht durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Keiner weiß hierzulande, wie der Tag 8/9. Mai nun zu bezeichnen ist. Viele bevorzugen deswegen ein Schweigen.

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Das Gedenken an das Ende des Krieges und der Schoa soll uns – die Bundesrepublik Deutschland, ihre plurale Gesellschaft, inklusive der jüdische Gemeinschaft – friedfertig machen.

So meine Hoffnung.

Wir wissen immer weniger über den Zweiten Weltkrieg und auch über die Schoa. Die kursierenden, kaum kontextualisierten digitalen Informationen vermehren nicht das Wissen.

Wir sollten uns ein nuanciertes historisches Wissen aneignen, um uns die Dimension eines möglichen Krieges hier und heute klarzumachen und den Frieden sichern zu können. Unsere jungen Leute müssen dafür nicht Historiker werden – sie brauchen aber vor allem solche Informationen, die mit ihren eigenen Erfahrungen und Gedanken korrespondieren. Dann setzen sie sich mit der Vergangenheit auseinander.

Und wir brauchen alle einen langen Atem.

Ion Lazarevic Degen (1925-2017), geboren in der sowjetischen Ukraine, gestorben in Israel, war im Krieg Maschinengewehrschütze, Kundschafter und Panzeroffizier. Seine Panzerbrigade vernichtete zwölf Nazi-Panzer, er wurde viermal schwer verwundet und wurde zum Kriegsinvaliden.

Kein Geringerer als israelischer Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verfasste 2017 einen Nachruf auf Degen und formulierte, Degen habe im Krieg so viele Schrecken, Leiden und Schmerz erlebt, dass er sich der Rettung von Menschenleben gewidmet habe – er wurde zu einem berühmten Orthopäden.

Im Dezember 1944 schrieb der neunzehnjährige Degen dieses Gedicht.

»Mein Kamerad, in deiner Todesagonie

rufe nicht umsonst nach deinen Freunden.

Lass mich lieber meine Hände über dein dampfendes Blut wärmen.

Weine nicht, stöhne nicht, du bist doch kein Kind mehr.

Du bist nicht verwundet, du bist einfach getötet.

Lass mich jetzt lieber deine Filzstiefel abziehen

Ich muss doch weiterkämpfen.«

Ion Degen war kein Marodeur. Er war ein Mann des Überlebens. Ein Soldat und ein bewusster Jude.

Die Zeit der gegenläufigen Gedächtnisse, als wir über die »Sieger« und »Opfer« im Zweiten Weltkrieg reflektiert haben, ist vorbei. Zurzeit gibt es weder rhetorische noch politische Mittel, um die Komplexität der Erinnerung darzustellen, wie sie in den Jüdischen Gemeinden Deutschlands noch vor kurzem existierte. Der Jom ha-Schoa und der Tag des Sieges können nicht mehr praktisch zeitgleich begangen werden.

»Jede/r feiert und erinnert nach seiner/ihrer Fasson« – das geht nicht mehr. Begeisterung über die Lenin- und Roter Stern-Orden jüdischer Veteranen und Veteraninnen und ihre »hundert Gramm« (Vodka) in Erinnerung an die gefallenen Kameraden – das geht nicht mehr. Wird es irgendwo noch praktiziert, wirkt das deplatziert.

Der aktuelle Krieg überlagert die Pluralität der Erinnerungen, nimmt ihr die Sprache und den Geist. Diese werden so bald nicht zurückkommen. Wir müssen mutig und realistisch sein, um uns das zuzugestehen. Wir wollen auch nicht, dass unsere Kinder, die Ur- und Enkelkinder der Überlebenden und Veteranen, nach brutalen Kriegserlebnissen im heutigen Europa, Gedichte wie das von Ion Degen schreiben müssten, oder dass ihre Eltern und Großeltern die Todesnachrichten in Frankfurt, Leipzig oder Stuttgart erhalten.

Glauben wir, dass die von prominenten Medienagenturen attraktiv gestalteten Drohnenbilder, die heute unsere Straßen so einladend füllen, unsere Kinder von der Brutalität des Krieges und des Kriegstodes befreien (moderner Krieg sei ja fast ausschließlich digital), dann täuschen wir uns schwer.

Friedfertigkeit bedeutet Kompromissbereitschaft, historische Ahnung, strategisches Geschick und bewusste Erinnerung. Nach Frieden zu streben, ist eine zutiefst jüdische Forderung. Wir verstehen Frieden als eine der Grundlagen der Welt. Ein kluger, diplomatischer Kampf für den Frieden ist eine existenzielle Aufgabe für die jüdische Gemeinschaft Deutschlands, auch für unsere junge Generation. Wir sind dafür mit unseren diversen Erfahrungen biografisch und kulturell prädestiniert. Lasst uns diesen Weg gemeinsam gehen.

Der Autor ist Vorstand der Nathan Peter Levinson Stiftung.

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