Der 7. Oktober 2023 markierte eine geopolitische Zäsur im Nahen Osten. Der brutale Angriff der Hamas auf Israel führte zu einer regionalen Eskalation mit weitreichenden Folgen – nicht nur für die Sicherheit Israels, sondern auch für das fragile Machtgefüge in Syrien, den Iran und darüber hinaus. Im Zentrum dieser Dynamik steht Israels militärisches Eingreifen, das sowohl international umstritten als auch strategisch folgenschwer ist.
Israelische Präventivpolitik: Überleben als Staatsräson
In westlichen Demokratien wird Israels militärisches Vorgehen häufig als unverhältnismäßig kritisiert. Diese Beurteilung blendet jedoch die existenzielle Bedrohung aus, unter der Israel dauerhaft steht. Die wiederholte und offen ausgesprochene Drohung seiner Vernichtung – insbesondere durch den Iran und seiner Verbündeten – prägt Israels Sicherheitspolitik grundlegend.
Die militärischen Operationen Israels nach dem 7. Oktober erscheinen aus dieser Perspektive nicht nur als Reaktion auf Terror, sondern als strategisch motivierte Präventivmaßnahmen. Sie zielten über die Zerschlagung der Hamas hinaus auf eine langfristige Veränderung regionaler Machtverhältnisse – etwa durch die Schwächung der Hisbollah und die faktische Unterbrechung der schiitischen Versorgungsachse Iran–Irak–Syrien–Libanon.
Der syrische Umbruch: Vom Stellvertreterkrieg zur Machtneuverteilung
In diesem Kontext entstand für oppositionelle Gruppen in Syrien eine neue Ausgangslage. Die Schwächung iranischer Einflussstrukturen durch israelische Luftschläge und verdeckte Operationen ermöglichte es Rebellen, regionalen Boden zu gewinnen – und letztlich das Assad-Regime zu stürzen. Es ist anzunehmen, dass Teile dieses Prozesses unter informeller Mitwirkung oder zumindest stillschweigender Duldung regionaler Akteure stattfanden, die ein Interesse an einer strategischen Neuordnung hatten.
Die Folge ist ein Vakuum – und zugleich eine Chance: Die Zerschlagung der schiitischen Achse liegt nicht nur im Interesse Israels, sondern auch jener sunnitisch geprägten Staaten, die sich durch den iranischen Expansionismus unter Druck gesetzt sahen. Saudi-Arabien, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Katar dürften den Wandel mit Erleichterung registriert haben. Die Türkei wiederum stärkt ihre geopolitische Position – nicht zuletzt im Energiesektor.
Iran: Strategische Grenzen und innenpolitische Risiken
Der Iran steht unter erheblichem innenpolitischem und ökonomischem Druck. Eine Fortsetzung der kostspieligen Unterstützung für verbündete Milizen im Ausland – Huthi, Hisbollah, paramilitärische Einheiten in Syrien – könnte innenpolitisch kaum vermittelbar sein. Die Bevölkerung, wie persönliche Beobachtungen aus den Jahren 2016/2017 zeigen, verfolgt weitgehend pragmatische Lebensziele: Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität, individuelle Freiheiten. Eine neue Protestwelle gegen das Regime wäre angesichts wachsender Unzufriedenheit nicht auszuschließen, zumal die Islamische Republik es bisher versäumt hat, Reformimpulse nachhaltig umzusetzen.
Auswirkungen auf Europa: Sicherheit, Energie und strategische Optionen
Auch für Europa ergeben sich aus der aktuellen Dynamik strategische Chancen. Sollte eine neue syrische Regierung beschließen, die russischen Militärbasen zu schließen, wäre die russische Präsenz im östlichen Mittelmeer empfindlich geschwächt. In Kombination mit einer Sperrung des Bosporus durch die Türkei im Krisenfall würde dies die russische Schwarzmeerflotte vom Mittelmeerraum abschneiden – ein sicherheitspolitischer Gewinn für die NATO und potenziell auch für die Ukraine.
Darüber hinaus eröffnen sich neue Perspektiven im Energiesektor. Die Erschließung von Gasfeldern, in gemeinsamer Zusammenarbeit mit Israel, Ägypten und der Türkei, könnte nicht nur regionale wirtschaftliche Impulse auslösen, sondern auch zur europäischen Energieunabhängigkeit beitragen. Der Bedarf an verlässlichen Gasimporten zur Unterstützung der industriellen Transformation – insbesondere in Deutschland – ist hoch. Eine stabile Mittelmeerregion ist dabei Grundvoraussetzung.
Die »Achse des Widerstands«: Geschwächt, aber nicht neutralisiert
Die ideologische und operative Schwächung der sogenannten »Achse des Widerstands« – bestehend aus Iran, Hisbollah, Hamas und weiteren schiitisch geprägten Akteuren – ist evident. Gleichwohl sollte ihre Handlungsfähigkeit nicht unterschätzt werden. Zwar ist eine Rückkehr zur früheren Stärke kurzfristig unwahrscheinlich, doch ideologische Netzwerke und asymmetrische Bedrohungen bleiben bestehen.
Die militärischen Erfolge Israels haben darüber hinaus neue operative Räume geöffnet – etwa im syrischen Luftraum. Sie ermöglichen strategische Angriffe, beispielsweise gegen Irans Atomprogramm. Diese Präventivschläge, so heftig sie im Westen diskutiert werden, sind aus israelischer Sicht Teil der Überlebenslogik: Wer permanent mit Auslöschung bedroht wird, wird handeln, bevor das Bedrohungspotenzial realisiert werden kann.
Perspektiven: Wandel durch Krise?
Langfristig könnte der aktuelle Konflikt – so paradox es erscheint – einen Impuls für politische und gesellschaftliche Reformen auslösen. Sollte der Iran gezwungen sein, seine außenpolitischen Ambitionen zurückzunehmen, könnte sich innenpolitisch Raum für Veränderung öffnen. Eine Rückkehr zu den Reformansätzen von 2015 und eine stärkere Öffnung – auch im Hinblick auf Menschenrechte, Frauenrechte und Religionsfreiheit – wären mögliche, wenn auch keinesfalls garantierte Folgen.
Auch in Syrien eröffnet sich eine historische Chance: Der Aufbau eines inklusiven, wenn auch nicht westlich-demokratischen Staatswesens könnte zur langfristigen Stabilisierung beitragen. Der Westen sollte sich von der Vorstellung verabschieden, seine politischen Modelle vollständig übertragen zu können. Vielmehr geht es um eine Koexistenz auf Augenhöhe – wirtschaftlich, politisch und kulturell.
Israel als Katalysator einer regionalen Neuordnung?
Der Sturz des Assad-Regimes, die Schwächung der schiitischen Achse und das fragile Machtvakuum im Nahen Osten eröffnen Risiken – aber auch Chancen. Der Staat Israel hat mit seinem entschlossenen Handeln maßgeblich zu dieser Neuordnung beigetragen. Entgegen der Intention der »Achse des Widerstands« könnte sich daraus langfristig eine Phase des Wandels ergeben – mit Potenzial für mehr Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte in der Region.
Ein friedliches Nebeneinander von Nationen mit unterschiedlichen Wertesystemen ist möglich, wenn gemeinsame Interessen über ideologische Trennlinien gestellt werden. Vielleicht werden wir eines Tages erleben, dass in Aleppo wieder jüdische Händler tätig sind – gemeinsam mit Menschen aus aller Welt.
Wenn aus der Tragödie des 7. Oktober 2023 eine Lehre zu ziehen ist, dann diese: Israel war nicht nur Ziel des Angriffs, sondern wurde zum Auslöser eines fundamentalen Umbruchs, der – trotz aller Härten – die Perspektive auf eine neue Ordnung im Nahen Osten eröffnet.
Der Autor ist Geschäftsführer eines Consulting-Unternehmens und war Vorsitzender des Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland. 2018 erschien sein Buch »Peacemaker: Mein Krieg. Mein Friede. Unsere Zukunft«.