Die Reaktionen auf meinen Gastkommentar jüngst im »Tages-Anzeiger« unter dem Titel »Antisemitismus und legitime Kritik an Israel verschwimmen« waren aufschlussreicher als der Text selbst. In den Kommentarspalten formierte sich ein Chor moralischer Selbstgewissheit, der vorgibt, Israels Politik zu kritisieren – in Wahrheit aber die Legitimität jüdischer Stimmen in der Schweiz verhandelt.
Da war die Rede von »Lobbymacht« und »verhinderten Debatten«, von »jüdischem Einfluss« und angeblicher »Zensur«. Einige forderten, jüdische Verbände müssten sich von Israels Regierung distanzieren, um nicht »mitschuldig« zu erscheinen. Andere meinten, man müsse meine religiöse Zugehörigkeit offenlegen, um »Transparenz« zu schaffen – als ob eine jüdische Stimme nur dann glaubwürdig wäre, wenn sie sich selbst relativiert.
Besonders entlarvend waren zwei inzwischen von der Redaktion gelöschte Kommentare. Ein Kommentator schrieb, Israels Regierung bestehe ausschließlich aus Juden, und weil Israel sich als »jüdischer Staat« definiere, sei »die jüdische Religion unbestreitbar in die Kriegsverbrechen involviert«. Der Schweizer Antirassismus-Artikel, so der Beitrag, müsse revidiert werden, um solche »faktenbasierten Aussagen« zu erlauben.
Als ob eine jüdische Stimme nur dann glaubwürdig wäre, wenn sie sich selbst relativiert.
Eine andere Kommentatorin, behauptete gar, »Antisemitismus« sei ein »Geschäftsmodell jüdischer Gruppen«, mit dem »Kasse gemacht« werde. Beide Stimmen repräsentieren nicht nur Unwissen, sondern ein Denkmuster, das alte Stereotype mit neuem Vokabular versieht: Die »jüdische Weltverschwörung« heißt nun »finanzielles Geschäftsmodell«, die religiöse Kollektivschuld wird als »Meinungsfreiheit« verbrämt.
Antisemitische Vorurteile und christlich geprägte Judenfeindschaft sind nicht neu
Diese Sprache ist kein Ausrutscher. Sie ist Ausdruck eines typisch helvetischen Antisemitismus: diskret und scheinbar vernünftig. Schon die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg stellte Mitte der 1990er Jahre fest, antisemitische Vorurteile und christlich geprägte Judenfeindschaft seien während der Zeit der nationalsozialistischen Bedrohung »allgemein üblich« gewesen. Der Historiker Jacques Picard sprach von einer »Verschweizerung des Antisemitismus« – einer Haltung, die selten laut, aber stets wirksam war. Der Publizist Alfred A. Häsler schließlich nannte den Antisemitismus in der Schweiz 1979 »unterschwellig, kaum greifbar, aber immer spürbar«.
Genau dieses Muster zeigt sich heute wieder. Man sagt nicht mehr »die Juden«, sondern »Israel«. Man ruft nicht mehr nach Ausgrenzung, sondern nach »Ausgewogenheit«. Doch das Ergebnis bleibt dasselbe: Jüdische Zugehörigkeit wird zum Problem, jüdische Präsenz zum Verdacht. Solche verbreiteten Haltungen schaffen das geistige Klima, in dem sich Radikalisierung vollzieht – sie erleichtern die Rekrutierung extremistischer Gruppen und rechtfertigen den Einsatz äußerster Mittel im Kampf gegen den vermeintlichen Feind, die »Juden«.
Man darf Israels Politik kritisieren – aber nicht, indem man die jüdische Religion oder Diaspora kollektiv haftbar macht. Wer behauptet, »die Juden« hätten von Antisemitismus profitiert oder seien »in Kriegsverbrechen involviert«, wiederholt nicht Fakten, sondern Verschwörungsrhetorik. Der Antisemitismus der Gegenwart tarnt sich als Realismus, als Freiheitsverteidigung, als moralische Gleichbehandlung. Tatsächlich reproduziert er uralte Muster – Misstrauen, Entmenschlichung, ökonomische Projektion.
Modernisierung durch soziale Medien
Der Schweizer Antisemitismus war stets »prophylaktisch«, wie ihn Gerhart Riegner, der in Genf lebende Ehrenvizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, charakterisiert hatte: Man hielt Juden auf Distanz, um sie später nicht ausschließen zu müssen. Heute geschieht das sprachlich – wer sich äußert, gilt als parteiisch, wer schweigt, als verdächtig. Es ist ein Antisemitismus der Mitte: höflich, sachlich, aber durchdrungen vom alten Bedürfnis, jüdische Stimmen zu relativieren.
Man darf Israels Politik kritisieren – aber nicht, indem man die jüdische Religion oder Diaspora kollektiv haftbar macht.
Die sozialen Medien haben diese Diskretion nur modernisiert. Unter dem Anschein rationaler Kritik liegt rohe Empörung. Antisemitismus ist wieder sagbar geworden – als Witz, als Meinungsfreiheit, als Kommentar unter einem Artikel. Helen Fein definierte ihn als »anhaltende Struktur feindlicher Überzeugungen«. In der Schweiz zeigt sich diese mentale Struktur als moralische Selbstvergewisserung: korrekt, anständig, aber tödlich gleichgültig.
Diese Gleichgültigkeit wurde nicht zuletzt auch in der öffentlichen Reaktion auf die Gewaltexzesse bei einer Pro-Palästina-Demonstration in Bern offenbar: Man diskutierte im Nachgang über Eskalation und Polizeieinsatz, kaum aber über den antisemitischen Geist, der solche Ausschreitungen erst möglich macht.
Wer bei Israel-Kritik die Verantwortung für den Nahostkonflikt religiös oder ethnisch zuordnet, wer jüdische Organisationen als Profiteure eines »Geschäftsmodells Antisemitismus« diffamiert, spricht nicht über Politik – er spricht die Sprache der Jahrhunderte alten Feindschaft. Der neue helvetische Antisemitismus ist der Antisemitismus der Anständigen. Und genau das macht ihn auch so gefährlich, wie er schon immer war.
Zsolt Balkanyi-Guery ist Präsident der GRA, der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus in der Schweiz