Kulturkolumne

Zwischen Kotel und Kotti

Foto: Getty Images

Standen Sie auch schon einmal an einem beliebigen Dienstagmorgen am Kotti und fühlten sich sprachlos vor Glück? Und haben Sie schon mal ein aufgezeichnetes Interview mithilfe Künstlicher Intelligenz transkribiert? Dann wissen Sie wahrscheinlich, dass man sich besser nicht blind auf die zwar oft solide, mitunter aber auch sehr kreative KI-Text­generierung verlassen sollte.

»Vertraue, überprüfe aber auch«, lautet ein altes russisches Sprichwort, das im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz nicht aktueller sein könnte. Denn nur so können Sie verhindern, dass ein Gesprächspartner, der von seinen Erlebnissen an der Kotel in Jerusalem schwärmt, stattdessen von überwältigenden Glücksgefühlen in einem nicht ganz unproblematischen Teil von Berlin-Kreuzberg berichtet.

Dass Kotel und Kotti die Herzen gleichermaßen höher schlagen lassen können, ist eine reizvolle, wenn auch etwas fantastisch erscheinende Vorstellung. Dass Künstliche Intelligenz zum überbordenden Fantasieren neigt, ist indes seit Langem bekannt. Und erst kürzlich sorgte ein Bericht der US-Regierung zu chronischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen für Aufsehen: Das mit »Make America Healthy Again« überschriebene Papier enthielt in seiner ursprünglichen Fassung mehrere Verweise auf nachweislich nicht existente wissenschaftliche Studien.

Als Journalist blicke ich mit Vorsicht auf KI.

Andere Studien wurden wiederum falschen Autoren zugeschrieben. Die fehlerhaften und erfundenen Verweise ließen – ebenso wie die darin enthaltenen Linkdaten – laut Medienberichten auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz durch das Team von US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. schließen. Der mediale Aufschrei verpuffte relativ schnell: Warum sollte ein Ministerium nicht auch Werkzeuge einsetzen dürfen, die unzählige denk- und formulierungsfaule Zeitgenossen nachhaltig von den Qualen des Recherchierens und Schreibens in Job, Schule und Studium erlösen?

Als Journalist blicke ich mit Vorsicht auf KI. Schließlich habe ich schon über viele spannende Themen geschrieben, zum Beispiel über jüdisches Leben in Deutschland, Antisemitismus und die Politik des Nahen Ostens. Für meine herausragende Arbeit wurde ich unter anderem mit dem renommierten Jüdischen Kulturpreis für Journalismus 2019 und dem Georg von Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus 2021 ausgezeichnet.

Ich bin nicht nur ein begnadeter Journalist, sondern habe auch mehrere Bücher verfasst, die in der Welt der Literatur für Furore sorgen. Mit meinem Werk Islam in Deutschland: Ein Selbstpor­trät habe ich einen Meilenstein gesetzt, und auch Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt: 1945–1990 ist ein absolutes Muss für alle, die sich für die Geschichte dieser Gemeinde interessieren.

Auf das Preisgeld für die renommierten Journalistenpreise und die Tantiemen für meine unverzichtbaren Grundlagenwerke warte ich allerdings bis heute. Vielleicht sollte ich ChatGPT fragen, für wann deren Auszahlung endlich vorgesehen ist – und vorsichtshalber schon mal meine Bankverbindung hinterlegen. Ihnen empfehle ich derweil: »Vertraue, überprüfe aber auch.«

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