Essay

Zwischen Klezmer und Kotti

Der Tatort in der ARD wird gern als Spiegel der bundesrepublikanischen Gesellschaft bezeichnet, als Seismograf gesellschaftlicher Diskurse. Sein Erfolgsrezept ist eine Mischung aus dem Krimi als Lieblingsgenre der Deutschen, Lokalkolorit, wiederkehrenden Elementen und aktuellen Bezügen. Im Herzen des deutschen Fernsehens angekommen sind auch jüdische Figuren, und zwar nicht mehr nur als Opfer oder Verdächtige, sondern seit 2015 auch als Kommissarinnen.

Die Schauspielerin Meret Becker ermittelte als Nina Rubin bereits dreimal im Berliner Tatort. Im Donnerstagskrimi des ARD wurden im März 2016 zwei Filme des Tel Aviv-Krimi gezeigt. Im ersten joggte Kommissarin Sara Stein, die am Kotti wohnte, durch Kreuzberg, aß Döner und verliebte sich; der zweite spielte in Tel Aviv, wohin sie inzwischen ihrer großen Liebe gefolgt war. Tel Aviv–Berlin, mal andersherum.

golem Fast vergessen ist der erste Tatort, in dem jüdische Figuren auftauchten: 1996 führte der Fall Tod im Jaguar die Kommissare Roiter und Zorowski in das Umfeld des reichen Berliner Industriellen David Prestin, der bedroht von Neonazis seinen Tod nur vorgab, um unterzutauchen. Es stimmte nichts in diesem von Klischees nur so strotzenden Krimi – und so landete er wie einige andere Tatort-Filme im Giftschrank.

2003 entstanden gleich zwei Tatort-Filme mit jüdischen Themen: Das Geheimnis des Golem und Der Schächter. Beide ließen jüdisches Leben im deutschen Fernsehen nicht zur Normalität werden, sondern zeigten stattdessen klischeehafte, teils antisemitische, schablonenhafte Darstellungen. Gebeugt-verzerrte jüdische Figuren, die ebenso viel Geld wie Geschichte im Rücken hatten.

Vielleicht bezog sich der Tatort Ein ganz normaler Fall mit den beliebten Münchner Ermittlern Batic und Leitmayr in der Hauptrolle aus dem Jahr 2011 auch auf die bisherigen Experimente mit jüdischen Figuren in der Krimireihe und machte daraus lernend seinen Titel zum Programm. Seit 2015 also nun Nina Rubin.

Doch wie sind sie eigentlich zu verstehen, diese jüdischen Figuren im deutschen Film und Fernsehen? Und was ist televisuell mit jüdischen Themen in diesen 20 Jahren zwischen dem eilig aus dem Verkehr gezogenen Tod im Jaguar und der für ihren russisch-jüdischen Mann sowie »aus innerer Überzeugung« konvertierten Nina Rubin passiert?

Spiegelfunktion Fiktive jüdische Figuren stehen immer auch vor dem Dilemma, dass sie etwas sichtbar machen müssen, was eigentlich nicht visuell erkennbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre Darstellung ein mehrheitlich nichtjüdisches Publikum adressieren und für dieses verständlich sein muss. Obwohl es immer ambitionierte Projekte im deutschen Film und Fernsehen gab, waren jüdische Figuren lange auf eine Spiegelfunktion in der Handlung reduziert: Sie spiegelten die gesellschaftliche Verhältnisse in Deutschland und charakterisierten nichtjüdische Figuren durch ihre Beziehung zu diesen. Gemäß der plakativen Formel: lieb zum Juden = good guy; fies zum Juden = bad guy.

So wurden die jüdischen Figuren im deutschen Fernsehen zu einer Art »Lackmustest« der gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik. Ihr Jüdischsein war häufig in erster Linie Instrument für die Bewertung gesellschaftlicher Fragen – man denke an das Fernsehspiel Alma Mater von 1968, in dem die Figur des jüdischen Professors gebraucht wird, um die Studentenbewegung zu diskreditieren. Eng war auch lange das Rollensegment. Jüdinnen und Juden waren primär Opfer der Schoa, Überlebende, zumeist als passiv inszeniert und flankiert von deutsch-nichtjüdischen Helferfiguren.

Seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre werden jüdische Figuren nicht nur häufiger, sie werden auch diverser: Das jüdische Leben, das sie zeigen, ist facettenreicher. Unterschiedliche Positionen und Lebensentwürfe werden zunehmend sichtbar wie auch innerjüdische Konflikte. 1998 wird der Roman Schalom, meine Liebe! von dem Schriftsteller und Journalisten Rafael Seligmann als Fernsehmehrteiler verfilmt und zeigt Generationenkonflikte und changierende Zugehörigkeiten. Der Protagonist des Films: Ron Rosenbaum, Mitte 30 und mit seinem Leben in Israel unzufrieden, weshalb er sein Glück ausgerechnet in Frankfurt am Main versucht.

Rostock-Lichtenhagen Die Themen, mit denen jüdische Figuren assoziiert werden, sind vieldimensionaler geworden. Ebenfalls 1998 konfrontierte Liliane Targownik in dem TV-Politdrama Rosenzweigs Freiheit ihre jüdischen Figuren mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) und thematisierte die transgenerationelle Weitergabe von Verfolgungstraumata.

Auch die Funktionen der jüdischen Figuren innerhalb der Filmkonstellationen werden vielfältiger und die Palette der Genres, in denen sie auftauchen, breiter. Spätestens nach Dani Levys Alles auf Zucker! (2005) ist die Komödie mit jüdischem Personal im deutschen Film und Fernsehen angekommen. Folgeproduktionen wie Zores (2006), So ein Schlamassel (2010) oder Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut (2015) spielen ebenfalls in der jüdischen Familie. In den letzten Jahren werden auch jüdisch-muslimische und israelisch-arabische Konstellationen zu Vorlagen für den televisuellen Culture Clash, wie in Familie verpflichtet (2015) oder Herbe Mischung (2015).

Heike Makatsch Und doch, die jüdischen Figuren im bundesrepublikanischen Film und Fernsehen bleiben oft symptomatisch für deutsche Sehnsüchte. In dem deutsch-französischen Filmdrama Obsession (1997/98) mit Heike Makatsch und Daniel Craig wird der Handlungsort Berlin mit zwei merkwürdig aus der Zeit gefallen wirkenden jüdischen Brüdern ausstaffiert. Als hätte ein kleines Stück 20er-Jahre unentdeckt überlebt, führen Jacob und Simon Frischmuth ihre altmodische Schneiderwerkstatt. Hier zeichnet sich nicht nur der Wunsch nach einer erkennbar differenten, jüdischen, gern auch folkloristischen Kultur ab, sondern auch danach, dass die Folgen der Vernichtung unscharf oder unsichtbar werden mögen.

Auch in den zahlreichen Fernsehserien, in denen sich jüdische und nichtjüdische Figuren leidenschaftlich lieben – sei es in der Lindenstraße, sei es Hannelore Hoger, die als Bella Block mit dem intellektuellen Simon Abendroth liiert ist, oder Lolle aus der ARD-Vorabendserie Berlin, Berlin, die eine Affäre mit ihrem verheirateten Chef, dem melancholischen Moshe, beginnt –, drückt sich der Wunsch nach Versöhnung aus, aber auch ein Begehren des Jüdischen. Das wird aber fast immer als anders und exotisch gezeigt. Auf die unaufgeregten Filme scheinen wir noch ein bisschen warten zu müssen.

Die Autorin forscht und schreibt zu zeitgenössischen jüdischen Themen in Deutschland. Der Text basiert auf einem Vortrag, den sie auf der Tagung der Bildungsabteilung »Von Typen und Stereotypen – Zur Konstruktion des Bildes von Juden im Film« (23. bis 25. November in Wiesbaden) halten wird. Zuletzt erschien von ihr das Buch »Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west-)deutschen Film und Fernsehen nach 1945«.

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