Literatur

Zwischen Ball und Bima

Rafael Seligmanns Vater trainierte die Fußballmannschaft und sang im Synagogenchor. 1933 floh er aus Nazi-Deutschland nach Frankreich. Foto: ullstein bild - Herbert Hoffmann

Im Zug waren alle meine Gedanken bei Ricarda. Ich stellte mir vor, wie wir zwei auf einem Dampfer nach Palästina fuhren. Dieses Bild schwand auch nicht, als ich meine glückliche Mutter wiedersah.

Am folgenden Tag überreichte mir Mama einen dicken Einschreibebrief mit Absender des Kaufhauses Bodenheimer & Co., Ulm. Doch statt meines Arbeitszeugnisses enthielt er ein Schreiben mit dem privaten Absender Lazarus Bodenheimer.

Mit blauer Tinte schrieb der Chef: »Ludwig, das Geld hast du dir mit deiner Arbeit redlich verdient. Es gehört dir. Nutze es klug. Die Tür zu meinem Haus steht dir immer offen. Schäme dich nicht, wieder heimzukehren.«

dollar Der Brief enthielt die tausend Dollar. Den Umschlag mit dem Geld in Händen, musste ich weinen. Der Brief bewies, dass mein Chef ein anständiger Mann war.

Den Umschlag mit dem Geld in Händen, musste ich weinen. Der Brief bewies, dass mein Chef ein anständiger Mann war.

In unserer Familie wäre jeder an seiner Stelle auf ewige Zeit beleidigt gewesen. Herr Bodenheimer dagegen lud mich ein, zu ihm zurückzukehren, obgleich ich ihn enttäuscht hatte.

Zu Hause hatte sich wenig geändert. Vater ging es wieder schlecht. Er stand spät auf und brütete dann schweigend im Salon vor sich hin. Lediglich zum Abendgebet in der Synagoge verließ er das Haus, um gleich danach wieder heimzukehren.

Vater sprach fast nur noch mit Mutter. Um Heiner und mich, aber auch um unsere jüngeren Geschwister kümmerte er sich nicht. Heinrich ging früh aus dem Haus und kehrte erst spät zurück. Er wich mir aus.

Ich hatte erneut alles aufgegeben, um Mutter nicht zu enttäuschen. Jetzt versuchte sie, mir Mut zu machen, wusste jedoch nicht wie. Sie hatte wenig Zeit für mich. Denn von unseren drei Hausangestellten war nur das Kindermädchen Lieserl geblieben.

Zum Unterhalt der anderen fehlte uns das Geld. Max Lechner, der 30 Jahre als Vaters Kutscher und Hausknecht gearbeitet hatte, und unsere Köchin Margreth hatten gehen müssen.

Kantor Ich suchte bei Herrn Loew Rat. Er bat mich in sein Zimmer unter der Treppe der Synagoge. Der kleine Raum wurde von einem massiven Schrank beherrscht, in dem, wie ich wusste, die rituellen Gewänder des Kantors hingen, der lange weiße Kittel für den Jom Kippur, die goldbestickten Kleider für die Hohen Feiertage sowie ein schwarzer Kaftan für den Gang zur Synagoge. Davor stand ein kleiner Holztisch mit zwei einfachen Schemeln.

Auf einem Wandbord reihten sich schwarz gebundene Gebetbücher, auf deren Rücken gold gedruckte hebräische Buchstaben prangten.
Als der Kantor mich fragte, was mich zu ihm führe, sprudelte es aus mir heraus. Ich berichtete, dass Herr Bodenheimer mein Scheitern vorhergesagt hatte. »Das sehe ich vollkommen anders!«, unterbrach er mich. Ich war überrascht, wie bestimmt Herr Loew sprach. »Ich glaube nicht, dass dein Platz in der Stadt ist. Du hast einen klugen Kopf und bist ein empfindsamer Junge, der die Menschen liebt, Ludwig.«

Herr Loew erklärte, er habe nach meinem Verstummen bei der Barmizwa mit Hauptlehrer Brader über mich und Heiner gesprochen.
Mir brannte das Gesicht. Warum erinnerte er mich an mein Versagen?

»Damit du dir über dein Wesen klar wirst, Ludwig.« Seine Stimme war nüchtern. »Die meisten Barmizwa-Jungen sind nicht so gescheit wie du. Sie lernen ihre kurzen Reden auswendig und leiern sie mehr oder minder fehlerlos herunter. Du dagegen hast die Nerven verloren …«
»Weil ich dem Wein zugesprochen hatte.«

blamage »Dein Bruder Heinrich hat auch dem Wein zugesprochen, doch er hat dich dank seiner Nervenstärke und seiner Geistesgegenwart vor einer Blamage bewahrt.«

Er sah mir in die Augen, als er fortfuhr. »Im Beruf kommt es, wie meist im Leben, weniger auf Intelligenz an, als auf ein robustes Nervenkostüm und gelegentlich auf eine Portion Rücksichtslosigkeit. Beides geht dir ab. Männer, die im Beruf vorankommen wollen, nehmen keine Rücksicht – auch nicht auf ihre Mutter.«

Da Herr Loew sah, wie sehr mich seine Worte schmerzten, erklärte er mir deren Sinn, indem er aus den »Sprüchen der Väter« zitierte.

Da Herr Loew sah, wie sehr mich seine Worte schmerzten, erklärte er mir deren Sinn, indem er aus den »Sprüchen der Väter« zitierte: »Wer ist reich? Der mit seinem Los zufrieden ist … Man soll sich mit seinem Dasein und seinen Gaben bescheiden.«

Der Kantor kam auf sich selbst zu sprechen. Seine Stimme sei ausgebildet und wohlklingend genug, um in den großen Synagogen Münchens, Frankfurts, Breslaus, ja Berlins zu bestehen.

»Doch das ist nur in zweiter Linie wichtig. In einer großen, reichen Gemeinde ist Durchsetzungskraft unentbehrlich.« Er senkte den Blick. Seine Stimme verlor ihren gewohnten melodischen Klang, wurde heiser. »Die besitze ich nicht, darum lebe und singe ich in Ichenhausen und erfreue hier die Menschen mit meiner Stimme. Hoffentlich.«

autorität Ähnlich verhalte es sich mit Rabbiner Cohn. »Als Vorsitzender der Deutschen Rabbinerkonferenz hätte er in jedem Tempel wirken können. Aber dort wäre er gezwungen gewesen, sich mit den Reichen und Einflussreichen zu arrangieren. In unserer Gemeinde dagegen verkörpert er die unumstrittene religiöse Autorität.«

Der Kantor blickte mich wieder an. »Um als Kaufmann in Ulm oder gar in München oder Frankfurt erfolgreich zu sein, muss man hart sein wie Stahl und kalt wie Eis. Das bist du nicht, Ludwig. Bleibe hier in Ichenhausen. Bei mir, deiner Familie und Dr. Cohn.«

Die Wärme kehrte in Kantor Loews Miene zurück. Er beschwor mich, mit meinem Bruder Frieden zu machen. »Heinrich ist rau. Doch er ist ehrlich. Gemeinsam werdet ihr hier euren Weg gehen und damit reich werden – jedenfalls im Sinne der Tora.«

So schonungslos hatte noch niemand mit mir gesprochen. Auch wenn mich sein Urteil schmerzte, gestand ich mir ein, dass der Kantor recht hatte. (...)

RECHTSAUSSEN Als ich sonntags um halb zwei auf dem Trainingsgelände erschien, teilte mir Herr Sauter mit, dass er mich heute als Rechtsaußen aufstellen würde.

»Bleib ruhig, Ludwig. Das ist das Wichtigste«, schärfte er mir ein. »Du bist der Schnellste auf dem Feld. Warte auf der Außenposition auf ein Zuspiel, nimm die Kugel ruhig an und stürm’ los. Niemand kann dir folgen. Du kannst alle Günzburger Schlafmützen überlaufen. Am Strafraum bremst du ab, schaust dich um. Ist der Feidl Simon frei, passt du ihm den Ball butterweich zu. Der hat einen gewaltigen Bumms. Ist er gedeckt, kurvst du in die Mitte und haust die Pille selbst ins Tor. Aber keine Hast! Lass dir Zeit, Wiggerl.«

»Ludwig hat heut’ beim Fußball mehr für uns getan als ihr mit eurem Geducke vor den Gojim!«

Trotz seines Zutrauens war ich mordsaufgeregt, als wir auf den Platz liefen und von den Zuschauern bejubelt wurden. Es mögen wohl tausend Männer gewesen sein, die dicht an dicht um den Rasen standen und unsere Elf mit lauten Hoch- und Hurrarufen empfingen. Für Frauen gehörte es sich nicht, sich mit Fußball abzugeben.

Günzburg war Kreisliga-Erster. Ich rief mir die Worte unseres Trainers ins Gedächtnis. Als Kreismeister über hundert Meter konnte mir niemand folgen – wenn ich den Ball nicht verstolperte.

Die Günzburger trabten in ihren grünen Trikots mit schwarzen Hosen auf den Platz. Es waren zumeist reifere Männer um die dreißig mit kräftigen Oberschenkeln; bei einigen wurde ein Bauchansatz sichtbar. Ich würde sie hinter mir lassen. Diese Gewissheit löste meine Verkrampfung.
Anfangs kamen wir Ichenhausener nicht ins Spiel. Die Grün-Schwarzen beherrschten das Geschehen, verteilten die Bälle von den Außenläufern schnell an die Stürmer. Bald flogen die Schüsse auf unser Tor. Doch die Bälle gingen daneben oder waren ungenau. Unser Keeper Walter Schober fing sie sicher.

Dann erwischte der Günzburger Halbrechts den Ball freistehend vor unserem Kasten. Mit einem mächtigen Schuss knallte er ihn halbhoch knapp neben den Pfosten. 0:1. Der Ball zappelte im Netz.

trainer Ich sah auf Friedrich Bodenheimers Uhr – gerade 16 Minuten gespielt. Das konnte heiter werden. Doch unser Trainer reagierte sofort. »Zurück, Saubande!«, dirigierte er die drei Läufer brüllend in die Verteidigung.

Dadurch wurde unsere Abwehr stabiler, aber wir Stürmer bekamen von hinten keine Vorlagen und standen uns an der Mittellinie die Beine in den Bauch. Immerhin brachten die Günzburger keinen Ball mehr in unseren Kasten. Ihre wenigen Torschüsse wurden von Walter sicher pariert.
In der Halbzeitpause nahm uns der Trainer im Vereinsheim am Rande des Feldes ordentlich auseinander. Ich hatte nicht geahnt, dass Herr Sauter so laut brüllen konnte.

»Saukerle! Jedes Rindvieh hat mehr Hirn als ihr. Erst lasst ihr das Goal offen wie ein Scheunentor. Dann mauert ihr’s zu wie mit Zement. Ihr Läufer-Deppen vergesst, was ihr tun müsst: Laufen! Herrgottkruzifixsakrament noch mal! Und die Herren Stürmer halten ihren Mittagsschlaf. Faule Hunde! Da müssen der Wolf und der Manfred, die Halbstürmer, eben nach hinten und sich die Bälle vor dem Strafraum holen, um den Klaus, den Feidl Simon und den Seligmann Ludwig damit zu füttern. Den Ludwig hab ich extra aus der Jugend g’holt, weil er der Schnellste ist. Wenn ihr ihm die Kugel gebt, lässt er alle stehen und flankt sie dem Simon oder haut sie selber rein.«

Nach der lautstarken taktischen Belehrung hämmerte der Trainer uns ein, dass wir besser und schneller seien als die fetten Günzburger Säckl.

Nach der lautstarken taktischen Belehrung hämmerte der Trainer uns ein, dass wir besser und schneller seien als die fetten Günzburger Säckl. »Wir müssen die Gelegenheit packen, sie vor unseren Zuschauern wegzuputzen. Der Rückstand von 0:1 hat nix zu bedeuten, wenn ihr euren Respekt vor den Flaschen ablegt und nach vorn stürmt.« Er sah in unsere Runde: »Und vergesst mir den fixen Ludwig nicht.«

Mir erschien es, als ob der Trainer das Schicksal unserer Elf, ja die Ehre Ichenhausens auf meine Schultern hob. Das bedrückte mich – zunächst. Doch dann kam mir in den Sinn: »Es gibt eine Zeit zum Kämpfen.« Jetzt war sie da. Gott hatte mir schnelle Beine geschenkt, ich musste sie nutzen.

kameraden Ab Beginn der zweiten Halbzeit rangen die Kameraden um jeden Ball. Ich bekam eine ordentliche Vorlage, nahm die Kugel auf und rannte los. Kurz vor dem Torraum sah ich mich um, wollte auf unseren Mittelstürmer flanken, doch der Ball sprang mir vom Fuß wie einem Zehnjährigen. Der Günzburger Verteidiger lachte mir ins Gesicht.

Na warte! Einige Minuten später holte ich mir noch vor der Mittellinie auf halbrechts die Pille, umdribbelte leichtfüßig meinen Gegenspieler und stürmte vor. Bis zum Strafraum waren es vierzig Meter. Je weiter ich lief, desto mehr Luft gewann ich. Dabei klangen mir die Rufe der Zuschauer in den Ohren: »Lauf, Ludwig, lauf!« Das verlieh mir noch mehr Kraft.

Die beiden Verteidiger standen vor dem Strafraum, ich zog in die Mitte und überlief sie spielend. Nun baute sich nur noch der Torwart vor mir auf. Mir fielen Sauters Worte ein: »Lass dir Zeit, Wiggerl!«

schusswinkel Ich bremste meinen Lauf. Sah zum Keeper, der mir entgegenrennen wollte, um meinen Schusswinkel zu verkürzen. Dabei wurde die rechte Torecke frei. Ich umspielte ihn und schob den Ball in den leeren Kasten.

»Ludwig! Ludwig! Wiggerl!«, jubelten die Zuschauer. Die Mannschaftskameraden kamen auf mich zu. Ihre anerkennenden Schläge peitschten auf meine Schultern und auf meinen Rücken.

Während ich mit den anderen zum Mittelkreis lief, erkannte ich Heinrich am linken Spielfeldrand. Mein Bruder brüllte aus Leibeskräften: »Ludwig! Ludwig! Ludwig Seligmann!« und reckte dabei beide Fäuste hoch.

Mein Ausgleichstor beflügelte unsere Elf. Wir steigerten uns in einen Spielrausch hinein. Fast alles gelang uns. Immer wieder wurde mir der Ball zugespielt, mehrmals sprintete ich los und ließ unter dem Jubel unserer Zuschauer die Gegenspieler stehen.

Am Ende gewannen wir 2:1. Durch das Match gegen die Günzburger hatte ich mich ins Herz meiner Mitbürger gespielt.

Am Ende gewannen wir 2:1. Durch das Match gegen die Günzburger hatte ich mich ins Herz meiner Mitbürger gespielt.

Die Jubelchöre »Lauf, Ludwig, lauf!« begleiteten mich während der Jahre, die ich für den FC Ichenhausen kickte, ja mein gesamtes Leben. Sie spendeten mir selbst in dunklen Tagen Kraft.

Als Heinrich und ich spätabends, von Schnaps und Bier befeuert, in unser Haus taperten und uns dabei lärmend unterhielten, dauerte es nicht lange, bis Vater uns im Hausmantel entgegentrat. »Ihr seid beschickert! Das gehört sich nicht für Juden!«

»Lass, Vater«, rief ihm Heinrich, vom Alkohol erkeckt, zu. »Der Ludwig hat heut’ beim Fußball mehr für uns Juden getan als ihr mit eurem ewigen Beten und Geducke vor den Gojim!« Vater erstarrte. Derart respektlos hatte sein Erstgeborener noch nie zu ihm gesprochen.

»Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball« erscheint am 15. August bei LangenMüller, München 2019, 320 S., 24 €.

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