Für die meisten Autoren, die sich zur Geschichte des Nahostkonflikts äußern, ist 1936 das Jahr, in dem sich die Araber in Palästina gegen die britische Herrschaft und Zionisten erhoben und den Aufstand nicht nur probten. Oren Kessler dagegen sieht in den Ereignissen, die sich damals in dem Mandatsgebiet abspielten, etwas anderes, und zwar den Beginn einer drei Jahre andauernden Rebellion, die seitdem die »Schablone« für die jüdisch-arabischen Zusammenstöße vorgab.
Der Autor, der Geschichte studiert hat, aber vor allem als Analyst und Autor für das »Wall Street Journal« oder »Foreign Affairs« arbeitet, trifft in seiner Deutung einen durchaus validen Punkt – allein schon deshalb, weil die Ereignisse in diesen Jahren vielleicht nur einigen Experten bekannt sind. Dabei liefern sie in der Tat einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Gegenwart. Denn bei der Lektüre des Buches hat man immer wieder den Eindruck, dass die politischen Positionen der Akteure von einst hochaktuell sind.
»Falls das zionistische Projekt Erfolg haben sollte«
Da ist auf der einen Seite der berühmt-berüchtigte Mufti von Jerusalem, Hadsch Amin al-Husseini, der schon damals Gerüchte streute, die Juden versuchten angeblich, den Tempelberg unter ihre Kontrolle zu bekommen, »die Briten hätten Moscheen und den Koran geschändet«, und dem Islam drohe Gefahr, »falls das zionistische Projekt Erfolg haben sollte«. Auch gelang es ihm, den Konflikt zu internationalisieren, also die arabische Welt zu seinen Gunsten zu mobilisieren.
Auf jüdischer Seite hingegen markierte das Jahr 1936 den Beginn einer ökonomischen Trennung von den Arabern sowie den Aufbau eines autarken Wirtschaftssystems. Viel bedeutsamer war aber die Tatsache, dass aus der marginalen jüdischen Untergrundtruppe Hagana schnell eine schlagkräftige Verteidigungskraft wurde, »die imstande war, sich unabhängig von den Briten gegen arabische Feindseligkeiten zur Wehr zu setzen«.
Und die Mandatsmacht? Die machte genau das, was seither immer wieder versucht wurde: Man wollte eine Lösung herbeizaubern, die auf einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat basiert. Die Empfehlungen dafür sprach damals die von London eingesetzte Peel-Kommission aus – das Konzept einer Zweistaatenlösung ist also nicht neu und feiert bald sein 100-jähriges Jubiläum. Die Reaktionen der Beteiligten in diesem Konflikt sind ebenfalls seither fast schon ritualisiert. Die Zionisten – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – begrüßten entsprechende Konzepte, die arabische Seite hingegen stellte sich oftmals stur und neigte nicht selten zu Maximalforderungen.
Beeindruckend unaufgeregt und sich in Wertungen sehr zurückhaltend
Das eigentlich Interessante aber sind die Akteure von damals, die Kessler auf eine beeindruckend unaufgeregte und sich in Wertungen sehr zurückhaltende Art und Weise skizziert. Neben dem Mufti auch den späteren Staatsgründer David Ben Gurion oder weniger bekannte, dafür recht skurrile Figuren wie die Briten Orde Wingate, der die Kämpfer der Hagana professionalisierte, oder Charles Tegart, der seine Expertise aus der Niederschlagung von Aufständen in Irland und Bengalen in seine Methoden in Palästina mit einfließen ließ. Auf arabischer Seite rückt er Nationalisten wie Musa Alami oder George Antonius in den Fokus.
In mancher Hinsicht liest sich Palästina 1936 wie eine Art Prequel zu Benny Morrisʼ Standardwerk 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg. Allein schon deshalb lohnt sich die Lektüre. Einziger Wermutstropfen: die teilweise unterirdische Übersetzung ins Deutsche. Ralf Balke
Oren Kessler: »Palästina 1936 – Der Große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts«. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Hanser, München 2025, 384 S., 28 €