Konferenz

Zukunft ohne Zeitzeugen

Vergangene Woche kamen über 130 Gäste in der Villa Elisabeth in Berlin zu einer Konferenz der Bildungsabteilung im Zentralrat zusammen. Foto: Event-Images-Berlin

Viele, die überlebt haben, schwiegen lange, und als sie begannen zu erzählen, meist erst den Enkeln, war es kaum zu ertragen. Sabena Donaths Großeltern erzählten ihr vor dem Einschlafen Erinnerungen aus dem Lager. »Und ich habe mich immer gefragt, ob das grausame Märchen sind oder wirklich passiert ist.«

Fast 50 Jahre später bewegt sie eine andere Frage: »Was ist, wenn niemand mehr diese Geschichten erzählt?« Sabena Donath leitet heute gemeinsam mit Doron Kiesel die Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden. Ebenjene Frage hat sie dazu bewogen, eine Konferenz zu organisieren, die Antworten findet für eine Zeit ohne Zeitzeugen. In Zusammenarbeit mit Michael Groys, Referent für Erinnerungspolitik und Gedenkstättenarbeit des Zentralrats, haben sie fast ein Jahr lang ein Programm erarbeitet, das sich mit dieser bedrohlich nahen Realität auseinandersetzt.

»Erinnern, um nicht zu vergessen« heißt die Konferenz. Dass im Titel das Wort »nicht« durchgestrichen ist, sei eine bewusste Provokation, sagt Michael Groys. Denn es sei nicht selbstverständlich, dass die Erinnerungen überleben, wenn die Zeugen sterben.

Nichts kann die reale Begegnung mit einem Überlebenden des Holocaust ersetzen.

Zwei Tage lang trafen sich in Berlin die Erinnerungsexperten: Gedenkstättenleiterinnen und Geschichtsprofessoren, Lehrer und Jugendreferenten, Kunst-, Kultur- und Medienschaffende, Nachkommen von Überlebenden der zweiten, dritten und vierten Generation. Im hohen Galeriesaal der denkmalgeschützten Villa Elisabeth in Berlin-Mitte diskutierten sie, wie Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen wirkmächtig bleiben kann – auch wenn »nichts die reale Begegnung mit einem Schoa-Überlebenden ersetzt«, wie der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, feststellt. Und dennoch muss man Wege finden, die »Atemlosigkeit«, die ihre Berichte verursachen, an die kommenden Generationen zu übertragen.

Das erste Panel gibt die Richtung an: Jüdische Perspektiven haben auf dieser Konferenz Vorrang. Deborah Hartmann leitet das Haus der Wannsee-Konferenz – als einzige jüdische Gedenkstättenleiterin Deutschlands. Sie erzählt von einer Begegnung zu Beginn ihrer Arbeit. Ein Kollege zeigte ihr das wohl berühmteste Exponat der Ausstellung: die Tabelle im Protokoll der Wannsee-Konferenz, in der Adolf Eichmann die Zahlen aller Jüdinnen und Juden auf europäischem Gebiet notierte. Für den nichtjüdischen Kollegen symbolisierte diese »Seite 6« die erschreckend bürokratische Präzision der Planung des Massenmords. Für Deborah Hartmann »machte sie unvermittelt klar, dass wir alle gemeint waren – auch meine Familie«.

Junge Jüdinnen und Juden in Deutschland

Junge Jüdinnen und Juden in Deutschland aber, so Hartmann, blickten heute anders auf diese Exponate. Ihre Großeltern stammen meist aus der Sowjetunion, sie erzählen nicht aus einer Opfer-, sondern aus einer Siegerperspektive: Sie haben die Schoa nicht überlebt, sondern beendet.

Das beobachtet auch Marat Schlafstein, Jugendreferent des Zentralrats. Die jüdischen Jugendlichen, mit denen Schlafstein arbeitet, fragen: »Wie kann ich mich irgendwie identifizieren, wie kann ich mich hineinversetzen?« Ritualisierte Erinnerung in Museen und auf Gedenkveranstaltungen erreichten sie kaum noch. In ihrer Suche nach Identifikation mit den Überlebenden ähneln sie nichtjüdischen Jugendlichen ihrer Generation.

Immer wieder wird bei dieser Konferenz die Studie zitiert, nach der junge Deutsche zunehmend weniger über die Schoa wissen und doch eine große Bereitschaft zeigen, mehr über die Geschichte ihrer Opfer zu lernen. Dafür aber, so Hartmann, brauche es neben der kognitiven Wissensvermittlung eben auch die Möglichkeit, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Und diese ist in einer pluralen Generation, in der viele Vorfahren aus einem anderen Land ohne Täter- oder Opferbezug kommen, viel schwieriger herzustellen.

Terrorangriff der Hamas auf Israel

Der 7. Oktober 2023 mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat sowohl dieses Nichtwissen als auch die fehlende Empathie deutlich aufgedeckt. »Die Mehrheit stand abseits und schwieg«, beklagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), die zu einem Grußwort kam. Der Kulturbereich sei besonders gefordert. Ihr Haus sei dabei, ein »Rahmenkonzept Erinnerungskultur« zu entwickeln, das zugewanderte Menschen mit einschließe, versprach Roth. Die Staatsministerin wurde vergangenes Jahr von jungen Juden auf der Jewrovision ausgebuht. Bis heute werfen ihr viele vor, für den Antisemitismus bei der documenta 15 mitverantwortlich gewesen zu sein. Auf der Zentralratskonferenz erntete sie – wenn auch vorsichtigen – Applaus.

Die Kritik am Umgang mit der »Schoa in Kunst und Kultur« musste bis zum nächsten Morgen warten. Dann aber nahmen die Panelisten ebenjene Szene in den Blick, die ihren jüdischen Akteuren so feindselig begegnet. Der Installations- und Videokünstler Leon Kahane berichtete, auf welche Widersprüche seine künstlerische Erinnerungsarbeit stößt. Ihm würden Verengung und Ich-Bezogenheit vorgeworfen. »Mir wird abgesprochen, das zu machen, was man in der Kunst immer macht: sich mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen.« Jüdische Künstler würden angeprangert, ein Monopol zu schaffen, wenn sie »nur« an die Schoa erinnern. Die Kulturwissenschaftlerin Stella Leder lässt das ratlos zurück: »Wer soll eigentlich in fünf Jahren noch hier sein von den Leuten, die das permanent abkriegen?«

Die Leiterin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Mirjam Wenzel, benennt den 7. Oktober als Bruch in der ohnehin problematischen Kulturszene. Theater, Museen oder Galerien, die sich zuvor eindeutig mit der Ukraine solidarisiert haben, schwiegen zum Massaker an Israelis. Ihr Museum sei nun »in einem Justierungsprozess, der sehr schmerzhaft ist«. Es ginge darum, sich ehrlich zu fragen: »Was greift noch? Und was müssen wir dringend verändern?«

Dabei ist neben der Kultur- und Gedenkszene sicherlich auch ihr größter Förderer, die Politik, gefragt. Marlene Schönberger, grünes Mitglied des Bundestags, bilanzierte durchaus selbstkritisch: »Was wir bislang tun, ist unzureichend.« Die sogenannte »Shoah Education« müsse besser werden, Schulen und Jugendarbeit sich an eine pluralistische Gesellschaft anpassen. Dazu aber brauche es nicht nur Geld, sondern vor allem besser ausgebildete Pädagogen und Zeit.

Wie erreicht man migrantische Jugendliche, deren Familien keinen Bezug zur Schoa haben?

Sowohl Schönberger als auch Dervis Hizarci, Berliner Lehrer und Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), erzählen von solchen Leuchtturmprojekten: von Schülern, die ihre eigenen Erfahrungen mit Verfolgung und Vertreibung, mit Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen können, um dann in eigenen Projekten die Geschichte ihres vielleicht noch neuen Heimatlandes aufzuarbeiten. Hizarci erzählt von Kreuzberger Schülern, die ihn mit Palästina-Fahnen begrüßten und mit denen er ein Jahr später Yad Vashem besuchte. Und Schönberger berichtet von Berufsschülern, die nach der Konzeption eines Theaterstücks über die Schoa heute »stabile Multiplikatoren sind, die Schulklassen Antisemitismus erklären können«.

Hoffnung auf eine neue Erinnerungskultur

Zentralratspräsident Josef Schuster teilte die vorsichtige Hoffnung auf eine neue Erinnerungskultur, die ohne direkte Zeitzeugen auskommen muss und »von der zweiten, der dritten und vierten Generation getragen wird«. Er mahnte jedoch, die Fragilität des politischen Konsens zur Unterstützung dieser kostspieligen Arbeit nicht zu unterschätzen: »In Thüringen könnte es rein rechnerisch passieren, dass die AfD schon dieses Jahr die absolute Mehrheit erreicht. Für die Gedenkstätten wäre das der Supergau.«

Die AfD habe jetzt schon Einfluss auf die Erinnerungskultur. Holocaust-Vergleiche wie während der Corona-Pandemie würden nicht mehr ausreichend von der Justiz geahndet, das zeige auch ein aktuelles Beispiel aus Bayern, bei dem ein AfD-Politiker bei einem Prozess freigesprochen wurde.

»Es herrscht ein gefährlicher Drang nach einem Schlussstrich.«

Dervis Hizarci

Am Nachmittag zieht Dervis Hizarci, der Kreuzberger Lehrer, eine vorläufige Bilanz: »Die Effekte, die man sich durch Bildung erhofft hat, sind verpufft.« Er erlebe in der »herkunftsdeutschen Ecke« einen großen Drang nach einem Schlussstrich. Währenddessen fehlten in migrantischen Milieus die Anknüpfungspunkte, die nie gesetzt wurden.

Hizarci fragt: »Wer erinnert denn wirklich? Wer trauert noch?« Die Schoa werde fast nur noch politisiert, zum Beispiel, wenn »Politiker mit antisemitischer Familiengeschichte sie plötzlich zum Einbürgerungskriterium machen«.

Auch Sabena Donath beobachtet eine Erinnerungskultur, bei der »ich in tote Augen blicke«. Ihr begegne ein leeres Schweigen. Es gebe keinen Resonanzraum für jüdische Erinnerung, häufig nicht einmal in der eigenen Gemeinschaft. »Wo können wir darüber überhaupt erzählen, haben wir selbst diese Räume?«, fragt sie ins vornehmlich jüdische Publikum.

Auf dieser Konferenz zumindest gab es diesen Raum. Und auch die Trauer ist möglich – in einem Gebet. Zsolt Balla, Gemeinderabbiner aus Leipzig, singt es zum Abschluss. Der Schmerz hallt durch den hohen Galeriesaal. Still kramen die Gäste danach ihre Sachen zusammen. Diesmal ist es kein leeres, es ist ein schwer beladenes Schweigen.

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