Psychologie

Zu viel des Guten

Foto: imago

Stellen Sie sich vor, Sie erfahren von einem zehnjährigen Mädchen – nennen wir es Sheri –, das an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet. Sie sehen ein Video, in dem Sheri von ihren Leiden und ihren Schmerzen erzählt, und wie gerne sie ein ganz normales Leben führen würde. Wessen Herz würde sich da nicht erwärmen?

Nun erfahren Sie, dass Sheri auf der Warteliste für eine neuartige Behandlung steht, die ihr Leben retten könnte. Doch die Liste ist lang – bis sie an die Reihe kommt, könnte sie ihrer Krankheit schon erlegen sein. Sie haben nun die Möglichkeit, Sheris Namen ganz nach oben rücken zu lassen, um ihr das Leben zu retten. Würden Sie es tun?

Empathie macht uns blind für langfristige Konsequenzen unserer Entscheidungen.

In der Tat haben in einem psychologischen Experiment zwei Drittel der Teilnehmer, die sich als besonders empathisch beschrieben, so gehandelt. Aber war das die moralisch richtige Entscheidung? Was ist mit den anderen Patienten auf der Warteliste, die ebenso sehr der Hilfe bedürfen und nun länger auf die Behandlung warten müssen, was für einige von ihnen womöglich tödlich enden könnte?

Dieses Experiment führt Paul Bloom, Professor für Psychologie und Kognitionswissenschaft an der Universität Yale, in seinem Buch Against Empathy als Beispiel dafür an, dass die – gerade in jüngster Zeit viel gerühmte und vor allem in politischen Debatten oft geradezu aggressiv eingeforderte – Empathie mit Werten wie Fairness und geregelten Verfahren kollidieren und so zu regelrecht unmoralischen Entscheidungen führen kann.

KONSEQUENZEN Denn Empathie richtet sich wie ein Scheinwerfer auf bestimmte Menschen oder Situationen, die uns zufällig gerade ins Blickfeld oder ins Bewusstsein geraten. Das macht uns blind für langfristige Konsequenzen unserer Entscheidungen und für das Leid derjenigen außerhalb des Scheinwerfers. Empathie bevorzugt den einen oder die wenigen gegenüber den vielen. Statt in moralischen Fragen nur auf sein Bauchgefühl zu hören, plädiert Bloom für »rationales Mitgefühl«, das die langfristigen Konsequenzen, die zukünftigen Kosten und die Auswirkungen auf Dritte mitbedenkt.

Bloom unterscheidet zwischen Empathie und Mitgefühl (compassion), was im Deutschen vielleicht nicht unmittelbar einleuchtet, da beide Begriffe hier oft synonym verwendet werden. Jüngere neurowissenschaftliche Forschungen legen aber durchaus nahe, dass bei dem Versuch, sich in das Leid anderer einzufühlen (was gemeinhin als Empathie bezeichnet wird), andere Hirnregionen aktiviert werden als bei dem Impuls, jemandem helfen zu wollen, ohne dabei eine gewisse emotionale Distanz aufzugeben. Mehr noch: Ersteres führt leicht zu emotionaler Überforderung, zu irrationalen Entscheidungen und zum Burn-out.

Empathie kollidiert oft mit Werten wie Fairness und geregelten Verfahren.

Der Autor berichtet von seinen Gesprächen mit buddhistischen Mönchen, die sich bestimmten Meditationsarten unterziehen, welche darauf abzielen, sich von seinen Gefühlen nicht überwältigen zu lassen. Und diese Techniken, im Westen auch als Achtsamkeitsmeditation bekannt, können tatsächlich zu freundlicherem und hilfsbereiterem Verhalten führen, während Empathie eher lähmt.

RACHE Überdies kann Empathie auch zu politischen Zwecken manipuliert werden, worauf schon Immanuel Kant hingewiesen hat. Viele Kriege beginnen mit dem Appell an die Empathie mit den tatsächlichen oder vermeintlichen Opfern des Gegners. Bloom will damit keineswegs sagen, dass Gewalt und Krieg immer falsch sind. Es gibt reale Konflikte, und manchmal muss man sich gegen einen Gegner mit militärischen Mitteln wehren. Bestes Beispiel ist der Kampf gegen Nazi-Deutschland.

Doch wenn es darum geht, Gewalt im Krieg zu begrenzen und nicht in sinnlose Massaker ausarten zu lassen, ist Empathie eher schädlich – denn auch der Wunsch, am Gegner Rache für dessen Verbrechen zu nehmen, ist in Empathie gegründet.

Bloom erzählt, wie der Dalai Lama einmal gefragt wurde, ob man Hitler frühzeitig hätte töten sollen, um damit unzählige Menschenleben zu retten. Der Dalai Lama überlegte eine Weile und sagte dann: Ja, man hätte ihn töten sollen – aber ohne dabei Hass zu empfinden.

SELBSTKONTROLLE Meist wird Empathie heute allerdings von linker oder progressiver Seite in Anspruch genommen. Man selbst sei empathisch – mit den Armen, mit Flüchtlingen, mit Minderheiten –, während der politische Gegner kalt und mitleidlos sei.

Falsch, sagt Bloom, auch Konservative empfinden Empathie, nur nicht unbedingt mit denselben Gruppen. Sie fühlen beispielsweise mit denen, die wegen offener Grenzen ihre Jobs verlieren oder Opfer von Kriminalität werden, oder mit Polizisten, die im Einsatz ihr Leben riskieren. Beiden Lagern solle man misstrauen, warnt Bloom, wenn sie Empathie zum politischen Argument machen: »Empathie ist immer auf der Seite des Zensors.«

Das Fazit des Autors: Moral braucht nicht nur Empathie, sondern vor allem Klugheit und Selbstkontrolle. Letztere hält uns davon ab, jedem Impuls nachzugeben, und befähigt dazu, auch über die langfristigen Konsequenzen unserer Hilfsbereitschaft nachzudenken.

Paul Bloom: »Against Empathy: The Case for Rational Compassion«. Penguin, London 2018, 286 S., £ 9,99

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