Erzählung

Zicklein in Maale Adumim

»Chad gadya, chad gadya disabin abah bitrei susei …« Die aramäischen Worte kommen meinen Gastgebern leicht über die Lippen. Wadim setzt allerdings eine halbe Sekunde später ein als seine Frau und trifft nicht den richtigen Ton. Statt »disabin« singt Wadim »dibazin« und statt »abah bitrei« »abavitrai«. Tanya ist das egal, sie genießt den Augenblick.

Ein Zicklein, ein Zicklein hat mein Vater für zwei Susei gekauft.

Der harte Singsang von Wadims Aramäisch erinnert an die Durchsagen in der Petersburger Metro. Er verwandelt die judäische Ziege in eine russische Geiß.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam eine Katze und fraß das Zicklein, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte.

Die Jüngere der beiden Töchter schmunzelt und senkt den Blick. Vielleicht ist ihr die improvisierte Pessachfeier peinlich. Vielleicht ist es ihr noch peinlicher, dass die Eltern ihr Nichtwissen zur Schau stellen und die eigenen Fehler eher amüsant zu finden scheinen, anstatt sich dafür zu schämen. Schwer zu sagen, was sie wirklich denkt. Sie ist sehr bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ist 14, in Israel geboren und aufgewachsen. Für sie gehören die Pessachrituale zur Allgemeinbildung.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam ein Hund und biss die Katze, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

historie Maale Adumim ist längst keine Siedlung mehr, sondern eine Kleinstadt mit fast 35.000 Einwohnern. Schön ist sie, diese Stadt auf dem Hügel. Von einer Aussichtsplattform aus sieht man an klaren Tagen das Tote Meer, die Berge Edom und Moab im Osten, den Skopus- und den Ölberg in Jerusalem, die arabischen Dörfer, die Kuppeln der Moscheen und die Minarette der Umgebung, vor allem aber Hügel, Steine, Ödland, ockerfarbenen Sand, Kakteen. Es wurde mir erzählt, man könne in der Ferne manchmal sogar den Berg Nebo erkennen, auf dem einst Moses kurz vor seinem Tod gestanden ist und nach Kanaan hinübergeschaut hat. Kanaan, das gelobte Land seiner Sehnsucht am anderen Jordanufer, das er nie erreichen würde.

Vor 3.000 Jahren sind hier Joschua und die Israeliten durchgezogen, nachdem ihre Trompeten Jerichos Mauern zu Fall gebracht hatten. Der Name der Stadt ist der Bibel entnommen. Im Buch Joschua wird die Grenzregion zwischen den Stämmen von Judah und Benjamin Maale Adumim genannt. Doch 3.000 Jahre sind eine lange Zeit, und Gott gehört nicht zu meinem engeren Freundeskreis.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam ein Stock und schlug den Hund, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

Auf der Fahrt hierher hat uns Tanya von der Frau aus dem arabischen Nachbardorf erzählt, die eines Tages den beiden Soldaten am Checkpoint etwas zu essen mitgebracht hatte. Die Soldaten kannten die Frau. Sie war immer freundlich zu ihnen gewesen. Doch das Essen war vergiftet. Man habe den beiden noch rechtzeitig den Magen auspumpen können, berichtet Tanya. Seitdem dürfen Soldaten keine Geschenke mehr annehmen, egal von wem.

Ob sie selbst jemals »auf der anderen Seite« gewesen sei, wollte ich wissen – drüben in Abu Dis, wo die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Jerusalem-Büros hat, oder in Jericho, der ältesten Stadt der Welt.

»Nein, nie. Als Israelin darf ich das nicht. Früher, vor der zweiten Intifada, sind viele Leute nach Jericho ins Casino gefahren, das die Palästinenser zusammen mit einer österreichischen Firma gebaut und betrieben hatten. Heute trauen sich viele jüdische Israelis nicht einmal mehr in die Altstadt von Jerusalem.«

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam ein Feuer und verbrannte den Stock, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

Hunger! Mazzes, hart gekochte Eier, das Charosset, eine Mischung aus Apfelstückchen, Datteln und Mandeln – eine mit Rotwein zu einem Teig geknetete Speise als Symbol für den Lehm, aus dem die Israeliten in den Zeiten der Knechtschaft Ziegel herstellen mussten, Meerrettich, als Zeichen für die Bitterkeit der Knechtschaft in Ägypten, Gefilte Fisch, ein Kartoffelsalat, Oliven, saure Gurken und noch einiges mehr warten darauf, meinen Hunger zu stillen.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam ein Wasser und löschte das Feuer, das den Stock verbrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

alija Großmutter hatte mit meinen Eltern nicht aus der Sowjetunion nach Israel emigrieren wollen. Sie stelle sich Israel wie ein großes Schtetl vor, und vom Schtetl habe sie schon in ihrer Jugend genug gehabt. Doch die ultraorthodoxen Siedler, von denen es auch in Maale Adumim einige gibt, haben mit den Luftmenschen aus Scholem Alejchems Er-
zählungen genauso viel gemeinsam wie Osama bin Laden mit Aladin aus Tausendundeiner Nacht.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam ein Ochse und trank das Wasser, das das Feuer gelöscht hatte, das den Stock verbrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

»Die ersten Wochen waren furchtbar«, erzählte Tanya. »Wir sind Anfang 1991 während des Golfkriegs ins Land gekommen. Ich hörte dieses Dröhnen, die Erde hat gebebt, und ich hatte entsetzliche Angst. Dann erfuhr ich, dass das unsere Abwehrgeschosse sind, die abgefeuert werden, um Saddam Husseins Raketen in der Luft zu zerstören. Das Erste, was ich mir damals besorgt habe, war eine Gasmaske für meine Tochter. Es gab kaum mehr Gasmasken im Land, aber ich habe den Einwanderungsbeamten so lange angebrüllt, bis er mir eine besorgt hat … Gut, das ist lange her, Schnee von gestern, obwohl dieser Ausdruck hierzulande nicht ganz stimmig ist.« »Die Hitze des vorigen Jahres«, schlug ich vor. »Les chaleurs d’antan.« »Ja, genau«, sagte sie und lachte. »Nein, aber ernsthaft: Ich bin mit meinem Leben hier zufrieden. Wirklich!«

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam der Metzger und schächtete den Ochsen, der das Wasser getrunken hatte, das das Feuer gelöscht hatte, das den Stock verbrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

terror Vor Beginn der Haggada-Rituale haben meine Frau und ich mit Tanya und Wadim einen Aperitif getrunken (einen trockenen Sherry für meine Frau und für Wadim, Martini Bianco für Tanya und für mich, alles natürlich nach einem besonderen Rezept hergestellt und somit garantiert koscher le Pessach) und über den Terror gesprochen. »Du erkennst einen Terroristen nicht, wenn er in den Bus steigt«, erklärte mir Wadim in einem Tonfall, als würde er von der Qualität des Sherrys reden. »Er ist als orthodoxer Jude verkleidet. Oder als schwangere Frau. Er sieht aus wie ein europäischer Tourist oder trägt eine Soldatenuniform.« Nach Selbstmordattentat in Jerusalem habe man Leichenteile auf den Balkonen der umliegenden Häuser gefunden, einige davon im achten Stock.

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam der Todesengel und schächtete den Metzger, der den Ochsen geschächtet hatte, der das Wasser getrunken hatte, das das Feuer gelöscht hatte, das den Stock verbrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

»Und jetzt bist du also Österreicher?«, fragte Wadim. »Ja, irgendwie schon«, er-klärte ich nachdenklich, »ja, ja, sicher, natürlich, was sonst«, und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, was mir Schimon vor zehn Jahren schon vorgeworfen hatte: »In erster Linie bin ich Kosmopolit.« Tanya und Wadim begannen zu lachen.

»Ich bin keine Kosmopolitin!«, erklärte Tanya. »Es gab einen Vorfall, 1990 in Leningrad. Der hat mir den Kosmopolitismus ausgetrieben. Damals sind die rechtsradikalen Gruppen mit antisemitischen Parolen durch die Straßen marschiert, und alle, Juden wie Nichtjuden, sagten, dass es bald Pogrome geben werde. Eines Tages, es war im Herbst, jedenfalls lag schon Schnee, hole ich meine Tochter vom Kindergarten ab. Ich stehe also im Vorraum, meine Tochter läuft mir entgegen, ich breite die Arme aus und höre plötzlich, wie eine Nachbarin, die ich seit Jahren kenne und die ebenfalls gekommen ist, um ihr Kind abzuholen, zu einer anderen Frau sagt: Bald wird ausgemistet, auch diese Jüdin und ihr Kind stehen schon auf einer unserer Deportationslisten … Seit diesem Moment wusste ich, dass ich auswandern werde und dass nur Israel für mich infrage kommt.«

Ein Zicklein, ein Zicklein. Da kam der Heilige, gesegnet sei Er, und schächtete den Todesengel, der den Metzger geschächtet hatte, der den Ochsen geschächtet hatte, der das Wasser getrunken hatte, das das Feuer gelöscht hatte, das den Stock verbrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Zicklein gefressen hatte, das mein Vater für zwei Susei gekauft hatte, ein Zicklein, ein Zicklein.

Endlich kann ich meinen Hunger stillen. Nach den vielen Gebeten und Gesängen ist mir eine Phase der Stille sehr willkommen. Ich denke an jenen Morgen, als meine Frau und ich von Wien nach Tel Aviv geflogen sind. Elf Tage sind wir nun in Israel, doch kommt es mir vor, als sei ich schon seit Monaten hier.

Chad gadya, chad gadya disabin abah bitrei susei …

Gekürzter Auszug aus Vladimir Vertlib: »Schimons Schweigen«. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012, 272 S., 19,90 €.
Wir danken Verlag und Autor für die Abdruckgenehmigung.

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