Joel Meyerowitz

Zeit ist Licht

Warum Farbe? Um diese Frage kreist das künstlerische Werk des amerikanischen Fotografen Joel Meyerowitz. Why Color? lautet auch der Titel der großen Retrospektive, die derzeit im C/O Berlin zu sehen ist.

Sie dokumentiert seine Arbeit von den Anfängen bis in die Gegenwart und spannt den Bogen von der schwarz-weißen Street Photography im New York der 60er-Jahre über die Serie der »Red Heads«, Porträts von ätherisch wirkenden jungen Frauen und Mädchen mit feuerroten Haaren, bis zu malerischen Stillleben aus den Ateliers von Paul Cézanne und Giorgio Morandi, die den Werken der Maler zum Verwechseln ähnlich sehen.

cape cod Dazwischen liegen kontemplative Aufnahmen von der Halbinsel Cape Cod und Fotografien der bizarren Trümmerlandschaft am Ground Zero, die in der Ausstellung einander panoramaartig gegenübergestellt werden. Dort die Idylle und Ruhe der Natur, hier die endzeithafte Kulisse zerstörter Zivilisation.

Die Bilderserie »Aftermath« ist Teil von Meyerowitz’ »World Trade Center Archi­ve«, mit dem er zum Dokumentar der Folgen von 9/11 wurde. Neun Monate lang machte er mit einer Plattenkamera Tausende Fotos, die das Ausmaß des Anschlags deutlich machen. Die Aufnahmen wirken gleichsam irritierend und verstörend, sind auf erschreckende Weise faszinierend. Abenddämmerung, die die Ruinen in sanftes Rot taucht. Gleißendes Sonnenlicht über Schuttbergen, das sich in den Fenstern be­­nach­barter Hochhäuser spiegelt – es ist dasselbe Licht, das dem Betrachter aus den Landschaftsaufnahmen von Cape Cod entgegenstrahlt.

1938 als Sohn jüdischer Einwanderer in New York geboren, wächst Joel Meyerowitz als Straßenjunge in der Bronx auf – der Vater verdient sein Geld als Lieferant und Lkw-Fahrer. Nach einem Malereistudium arbeitet er zunächst als Werbegrafiker, bevor er 1962 den Fotografen Robert Frank bei der Arbeit begleitet. Diese Begegnung wird zu einer Initialzündung für den jungen Meyerowitz: »Zwei Stunden lang beobachtete ich, wie er sich bewegte und fotografierte. Jedes Mal, wenn seine Leica klickte, konnte ich sehen, wie ein Mo­ment gefror.«

europa Von diesem Zeitpunkt an legt er die Ka­mera nicht mehr aus der Hand und arbeitet wie ein Besessener. Mit dem durch einen Werbeauftrag verdienten Geld fährt er ein ganzes Jahr lang quer durch Europa – für den angehenden Künstler eine Bildungsreise und eine Schule des Sehens. Stets hat er zwei Kameras dabei, eine mit Schwarzweiß- und eine mit Farbfilm. Einige Motive fotografiert er doppelt, um die Bildwirkung zu erproben. Wann stört das Kolorit, wann wird es zum bestimmenden Element?

Sein Markenzeichen wird von nun an die Farbe – ein Schritt, der abrupt mit den Konventionen der damaligen Reportagefotografie bricht. Obwohl bereits 1935 der erste Diapositivfilm auf den Markt kommt, ist die Colour Photography bis in die 80er-Jahre der Werbewelt vorbehalten und gilt damit lange Zeit als gewöhnlich, amateurhaft und kommerziell. Doch Meyerowitz empfindet das Spektrum in seinen Grauabstufungen als zu eng: »Die Welt ist farbig, der Himmel ist blau, die Menschen leuchten im Sonnenschein. Warum soll man die Welt auf Schwarz-Weiß reduzieren, wo sie doch so reich ist an visuellen Klängen?«

medium Der Fotograf geht im Lauf seiner künstlerischen Entwicklung jedoch weit über diesen formalen Ansatz hinaus. Farbe ist nicht al­lein ein Ausdrucksmittel, das dem Inhalt folgen soll, sondern entwickelt sich für ihn zu einem Medium, die Schöpfung um sich herum zu verstehen und zu fühlen, dient dem Erkenntnisgewinn.

Indem sie die elementaren Vorstellungen von Licht, Raum und Zeit verbildlicht, ermöglicht sie dem Künstler die Reise weg vom Lärm der Straße und des Alltäglichen hinein in die Stille, ins Innere seiner selbst. »Heute möchte ich raus in die Welt und meinen Spaß haben«, sagte Joel Meyerowitz vor Kurzem in einem Interview. Vielleicht hat er ja das Ziel seiner Reise bereits erreicht.

Joel Meyerowitz. Why Color? Retro­spective, C/O Berlin, bis 11. März

www.co-berlin.org

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024