Kino

Wut und Freundschaft

Der fast 18-jährige Joseph stammt aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Tel Aviv. Seine Eltern wurden noch in Frankreich geboren. Der Vater ist Oberst in der israelischen Armee und die Mutter Ärztin. Joseph muss zum Wehrdienst und möchte, wenn er denn schon dienen muss, zu den Fallschirmspringern und danach Musiker werden.

Yacine ist ebenso alt wie Joseph. Er stammt aus dem Westjordanland. Sein Dorf ist von der hohen Mauer umgeben, die viele Araber so wütend macht. Sein Vater, ein Ingenieur, hat keinen Passierschein und kann im Dorf nur Autos reparieren. Yacine selbst hat mehr Glück. Er wurde nach Paris geschickt und hat gerade sein Bac (Abitur) bestanden. Was die beiden jungen Männer nicht wissen, ist, dass man sie als Babys vertauscht hat. Der Jude Joseph ist geborener Palästinenser, und der andere Sohn, Yacine, plötzlich Jude.

Das Kino liebt solche Konstrukte, um uns ungewöhnliche Geschichten zu erzählen, die »bigger than life«, also größer als das Leben sind. Und wer jetzt den Abwinkreflex bemüht und dieses Filmklischee von vertauschten Identitäten nicht schon wieder sehen möchte, sollte sich diesen hervorragenden Film trotzdem anschauen. Der Grund für das Babyschlamassel ist immerhin ganz originell. Im Februar 1991, mitten im ersten Golfkrieg, kamen in Haifa zwei kleine Jungen fast gleichzeitig zur Welt. Nach dem irakischen Beschuss durch Scud-Raketen begann das Chaos. Man rettete die Babys und vertauschte sie dann.

Zufall Die französische Regisseurin Lorraine Lévy benutzt geschickt den Kino-Zufall, um eine ebenso packende wie absurde Geschichte über Identitäten, Verwandtschaft und das ganz normal verrückte Israel zu erzählen. So ist es ein Bluttest bei der Musterung, der die Verwechslung überhaupt erst aufdeckt. Joseph hat Blutgruppe A, seine Eltern A minus.

»Genetisch unmöglich«, sagt seine Mutter, die Expertin, und bringt so das Familiendrama ins Rollen. Plötzlich scheint nur noch das Blut Garant für die Wahrheit zu sein. Joseph darf nicht mehr in die Synagoge, obwohl er jüdisch erzogen, beschnitten und ein Kenner der Tora ist. Der alte Rabbi seiner Synagoge erklärt ihm geduldig, aber gnadenlos, dass er nun konvertieren muss.

Es sind diese kleinen, alltäglichen Szenen, die Israel und seine Traditionen hinterfragen, ohne zu dozieren. Subtilität ist Trumpf in diesem Werk, und es sind nicht zufällig die Frauen, die nach Lösungen suchen. Denn die Männer erweisen sich zunächst als völlig überfordert und sehen schwarz. »Dann kann ich ja die Kippa abnehmen und mir einen Sprengstoffgürtel umschnallen«, meint Joseph verbittert.

Auch die Väter können die in jahrzehntelanger Feindschaft aufgebauten Vorurteile nur schwer überwinden. Die Filmemacherin setzt bei der Entkrampfung ganz auf die Mütter und die jüngeren Schwestern. Sie reagieren pragmatischer und emotionaler. Aber es sind die beiden vertauschten jungen Männer Joseph und Yacine, die sich plötzlich anfreunden, gegenseitig besuchen und ihre Vorurteile überwinden wollen, trotz des Misstrauens auf beiden Seiten.

nonverbal Lorraine Lévy hat ein berührendes und kluges Familiendrama gedreht. Sie ist eine Meisterin der Zwischentöne, der Blicke, der nonverbalen Kommunikation. Und sie setzt auf erstklassige Schauspieler. Der in Frankreich bekannte Pascale Elbé – übrigens Sohn nach Frankreich emigrierter algerischer Juden – spielt den Soldaten mit stummer Wut.

Den arabischen Vater Khalifa Natour sah man kürzlich auch in Eran Riklis’ Mein Herz tanzt. Seine Mimik drückt oft ebenso müden wie überforderten Schmerz aus. In einer sehr schönen Szene versuchen es beide Männer nach den lautstarken Anschuldigungen beim ersten Treffen noch einmal mit einer Annäherung. Sie gehen in ein Café, sitzen vor ihren Kaffeetassen und sagen kein Wort. Alle Schauspieler sind gut gecastet. Neben der bekannten Emmanuelle Devos spielen auch die beiden jungen Darsteller Mehdi Dehbi und Jules Sitruk groß auf.

Was diesen ebenso klugen wie bewusst versöhnlichen Film ausmacht, sind die vielen unbeantworteten Fragen, die uns die Regisseurin stellt. Warum muss Joseph überhaupt konvertieren? Und Yacine, der kein Wort Hebräisch spricht, ist plötzlich Israeli und passiert die bis dahin so unüberwindliche Grenze spielend. Das Politische bleibt so nie außen vor. Die inneren Widersprüche Israels werden hier auf intelligente und manchmal ironische Weise thematisiert.

Credo In Frankreich erreichte der Film, als er vor drei Jahren ins Kino kam, beachtliche 250.000 Zuschauer. In den USA spielte das Werk immerhin über 1,2 Millionen Dollar ein. Gedreht wurde mit wenig Geld in nur 33 Tagen an Originalschauplätzen in Israel. Lorraine Lévy gab ihrer israelisch-französisch-arabischen Crew ein Interview von Amos Oz zu lesen, in dem er für einen historischen Kompromiss plädiert.

Die Dreharbeiten verliefen jedoch nicht problemlos, und ein bereits gecasteter israelischer Schauspieler wurde sogar kurz vor Drehbeginn von radikalen Palästinensern ermordet. Und doch blieb die Regisseurin bei ihrem humanistischen Credo, das ihr einige Kritiker auch als Naivität auslegen. Lorraine Lévy geht es in ihrem Film um eine behutsame Annäherung, um Eltern, die mit zwei Söhnen konfrontiert werden. Manchmal ist es die Aufgabe des Kinos, Hoffnung zu spenden, wo Politik versagt.

»Der Sohn der anderen« (»Le fils de l’autre«), F 2012, 105 Min. Regie: Lorraine Lévy. Mit: Emmanuelle Devos, Pascal Elbé u.a. Kinostart: 19. September

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