Radikale Jüdische Kulturtage

»Wir wollen Berlin judaisieren«

Max Czollek über genervte »Judenschriftsteller« und die Veranstaltung am Maxim Gorki Theater

von Philipp Fritz  30.10.2017 14:21 Uhr

Organisator der Radikalen Jüdischen Kulturtage: der Schriftsteller Max Czollek Foto: Nihad Nino Pusija

Max Czollek über genervte »Judenschriftsteller« und die Veranstaltung am Maxim Gorki Theater

von Philipp Fritz  30.10.2017 14:21 Uhr

Herr Czollek, was eigentlich ist an den Radikalen Jüdischen Kulturtagen radikal?
Es geht uns als Festivalmacher darum, die Existenzbedingungen jüdischer Realität in Deutschland infrage zu stellen. Das ist im besten Fall etwas Erschütterndes, etwas, das uns verunsichert. Jedenfalls ist es radikal, deshalb heißt das Festival, wie es heißt. Was uns als Festivalmacher an den Kulturtagen interessiert, sind Fragen wie: Was bedeutet das Adjektiv jüdisch? Was bedeutet es, jüdische Kunst zu machen? Was bedeutet es, in Deutschland als Jude Kunst zu machen? Dem gehen wir in verschiedenen Versuchsanforderungen nach und auf unterschiedlichen künstlerischen Feldern: Theater, Performance, Musik, Literatur.

Wie sehen denn die Existenzbedingungen aus, von denen Sie sprechen?
Für Juden in Deutschland, aber auch für andere Minderheiten, gibt es ein »Repräsentationskoordinatensystem«, für Juden ist dies ein Dreieck aus Antisemitismus, Schoa und Israel. Das sind die Positionen, von denen aus man als Jude spricht. Wenn ein Arzt jüdisch ist, dann ist dieser jemand kein jüdischer Arzt. Jemand, der sich zu den genannten Themen in der Öffentlichkeit äußert, ist aber Jude. Dasselbe gilt für die Kunst. Man ist ein jüdischer Künstler, wenn man Kunst mit einer bestimmten Lesbarkeit produziert.

Ein Problem?
Alles, was ich tue, ist in einer deutschen Wahrnehmung eine Bestätigung, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt. Selbst wenn ich mich in meiner Kunst also mit Fragen beschäftige, die erst einmal nichts mit der Schoa zu tun haben, dann wird das trotzdem immer wieder damit in Verbindung gebracht. Das ist natürlich nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig, weil es auf das Wissen beschränkt bleibt, was Deutsche von den Juden haben: dass sie sie einst umgebracht haben.

Verfolgen Sie mit dem Festival und der in diesem Rahmen gezeigten Kunst ein bestimmtes Anliegen? Ein Ziel?
Als jüdischer Künstler hast du in Deutschland nur zwei Möglichkeiten, Kunst zu machen: Entweder du verkaufst deine Biografie, oder du bist unsichtbar. Wir wollen die Positionen, die Juden im öffentlichen Raum einnehmen können, erweitern. Dafür wählen wir eine Strategie, die sich mit einem Satz von Hannah Arendt beschreiben lässt: Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen. Das ist absolut zentral. Wenn wir also die »Judenschriftsteller« sind, dann nennen wir die anderen »Kartoffeln«. Wir wollen mitdefinieren, wie dieses Spiel gespielt wird. Let’s Dance! Die Sache ist: Wir haben keine Handlungsmacht, wenn uns das nur passiert, wir wollen aktiv sein.

Nervt es, als Künstler auf die eigene Biografie reduziert zu werden?
Es nervt total – sowohl die Minderheiten-Künstler, als auch die Rezipienten. Wenn etwa auf einem Roman »migrantisch« draufsteht, dann weiß ich schon, worum es gehen wird. Deutsche Autoren hingegen bleiben unsichtbar. Niemand würde den Roman eines Deutschen ohne hybride Identität, auch so nennen.

Weil es in dem Sinne keinen deutsch-deutschen Roman gibt ...
... ja, das ist dann einfach ein Roman ohne Adjektiv, das ist ordentliche Literatur. Die andere Literatur ist migrantische Literatur, Juden-Literatur oder Frauenliteratur. So funktioniert Vorherrschaft im Literaturbetrieb: Die einen bekommen ein Adjektiv, die anderen nicht. Und die Biografie ist dann das Kapital der jeweils verorteten Künstler. Wir probieren nun, im Rahmen des Festivals, mit und an diesen Adjektiven zu arbeiten.

Anders formuliert: Sie haben als Festivalmacher einen Ball zugespielt bekommen und schießen nun umso härter zurück.
So ist es. Und dieser Stil drückt sich in verschiedenen künstlerischen Formen und Temperamenten aus. Es ist nicht alles Schauspiel, es ist auch Performance, Konzert und ganz viel Party. Im Maxim Gorki-Theater machen wir Kunst, die Reflektion findet an anderen Orten statt, zum Beispiel im Jüdischen Museum Berlin. Das ist die Ausweitung der Desintegrationszone. Ich freue mich sehr darauf, die Stadt zu »judaisieren«.

Mit dem Organisator der »Radikalen Jüdischen Kulturtage« am Maxim Gorki Theater Berlin (bis zum 12. November) sprach Philipp Fritz.

www.gorki.de/de/radikale-juedische-kulturtage

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