Musik

»Wir feiern Ramadan und Schabbat«

Herr Feidman, im Laufe Ihrer langen Karriere – wir sprechen von einem Dreivierteljahrhundert – sind Sie auf fast allen großen Bühnen der Welt aufgetreten. Wo spielen Sie am liebsten?
Giora Feidman:
Ich liebe es sehr, in Kirchen zu spielen. Aber natürlich gibt es auch andere Orte, die einem in Erinnerung bleiben, weil sie so besonders sind.

1936 wurden Sie in Buenos Aires geboren, seit Ihrem 21. Lebensjahr, also seit 1956, leben Sie in Israel, wo sich seit dem 7. Oktober alles verändert hat. Welche Mittel bleiben einem Musiker, um darauf zu reagieren?
Feidman: Die »Friendship Tour« war unsere Antwort auf den Krieg in Israel, auf die aktuellen Geschehnisse, auf den Hass, der sich zunehmend in der ganzen Welt verbreitet. Aber sie war auch unsere Antwort auf den Krieg in der Ukraine. Dabei fing alles eher durch einen Zufall an.

Wie sind Sie ursprünglich auf die Idee zu einer »Friendship Tour« gekommen?
Feidman: Die Idee dazu entstand während der Covid-Pandemie, und zwar vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Unser Wunsch war es zunächst, ein Projekt besonders für die Menschen zu machen, die während der Pandemiezeit einsam oder verzweifelt waren.

Ist das Konzept ebenfalls in Zusammenarbeit mit Ihrem Komponisten, Manager und Freund Majid Montazer entstanden?
Feidman: Ja genau. Wir arbeiten schon seit rund vier Jahren sehr eng zusammen. Und als das Konzept endlich stand, wurden wir von den aktuellen Ereignissen eingeholt. Niemand hatte mit einem Krieg in der Ukraine gerechnet. Die »Friendship Tour« entwickelte sich dann aber schnell zu einem musikalischen Protest, der die Freundschaft zwischen den Völkern in den Vordergrund rücken sollte. Wir spielen also für den Frieden.

Kann Freundschaft ebenso wie der Frieden nicht ein sehr fragiles Konzept sein?
Feidman: Freundschaft ist auf jeden Fall keine Selbstverständlichkeit, aber nichts im Leben ist eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es keine Kriege geben kann, wenn Menschen miteinander Freundschaften schließen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Die Freundschaft ist ein hohes Gut.

Wie viele Stücke haben Sie für die »Tour der Freundschaft« komponiert, Herr Montazer?
Majid Montazer: Insgesamt sind es 13 Stücke, darunter: »Power of Love«, »The Same Way to God« oder »Prayer for a Friend«. In den letzten zwei Jahren haben wir dieses Freundschafts-Konzert über 250-mal aufgeführt, und zwar vor insgesamt über 60.000 Besuchern. Durch »Power of Love« kamen wir überhaupt erst auf die Idee für das neue Album »Revolution of Love«.

Wie sollte die musikalische Message der »Tour der Freundschaft« lauten?
Feidman: Freundschaft bedeutet zunächst einmal Glück und Zufriedenheit. Und sie schenkt uns ganz viel positive Energie. Mithilfe von Freundschaft lassen sich Grenzen überwinden, im Idealfall sogar irgendwann einmal Kriege. Als Menschen sind wir alle Mitglieder einer großen Familie, das soll unsere musikalische Message sein. Dafür gehe ich auf die Bühne. Dabei spiele ich vor den Menschen, aber vor allem für sie. Ich lasse mich trotz aller Geschehnisse nicht vom Glauben an das Gute abbringen, an den Frieden.
Montazer: Ich habe auch schon vor Muslimen gespielt, die zur Pilgerfahrt nach Mekka aufgebrochen sind. Ich spielte auch eines ihrer Gebete und bekam dabei eine Gänsehaut.

Eine starke Geste, besonders für einen jüdischen Musiker.
Feidman: Das Besondere war, dass der Azān, der islamische Gebetsruf des Muezzins, eigentlich nur gesungen wird. Wir aber haben ihn instrumentalisiert.
Montazer: In Israel leben viele Juden mit iranischen Wurzeln. Ich selbst bin Iraner, und der Maestro ist Israeli. Mehr an Freundschaft scheint wohl kaum möglich. Für meine Kinder ist der Maestro inzwischen wie ein zweiter Opa. Sie lieben ihn. Und wir beweisen, dass man sehr wohl einen unterschiedlichen Hintergrund haben kann. Wir gehören ja auch unterschiedlichen Generationen an.

Zwischen Ihnen liegen immerhin 43 Jahre Altersunterschied!
Montazer: Ja, aber das spielt überhaupt keine Rolle. Wir feiern den Ramadan und den Schabbat eben gemeinsam, und wir leben für die Musik und für diese positive Botschaft. Der Frieden steht über allem, was uns antreibt.

Im Laufe Ihres Musikerlebens haben Sie über 60 Alben veröffentlicht und weltweit Erfolge gefeiert. Liegt das daran, dass die Klezmer-Musik universell ist, so eine Art »musikalisches Esperanto«?
Feidman:
Klezmer ist zunächst einmal eine instrumentale Festmusik mit einer »Stimme«, die überall verstanden wird. Für mich persönlich gibt es nur eine Religion, und das ist die Musik. Ich versuche, das an einem Beispiel zu erklären: Ein Baby beherrscht noch keine Sprache, versteht nicht die Worte, aber es fühlt die Musik. Kinder beginnen zu singen, bevor sie überhaupt sprechen können. Deshalb bin ich so davon überzeugt, dass Musik, insbesondere die Klezmer-Musik, eine Sprache ist, die die Menschen überall auf der Welt zusammenbringen kann.

Die Klezmer-Tradition führen Sie bereits in vierter Generation fort. Aber ist es mit bald 88 Jahren nicht manchmal anstrengend, auf Tournee zu gehen?
Feidman: Ganz im Gegenteil, egal, ob ich 16 Stunden im Studio bin oder auf der Bühne stehe – die Musik gibt mir Energie. Ich empfinde das überhaupt nicht als Arbeit. Mit der Klarinette berühre ich die Seele von so vielen Menschen, und ich betrachte es nun einmal als meine Bestimmung, für den Frieden zu spielen. Es macht mich glücklich, andere Menschen ebenfalls glücklich zu machen. Vor allem halte ich es für wichtig, gerade in Zeiten wie diesen, in denen man eine Entfesselung des Hasses beobachten kann, die Botschaft des Miteinanders zu verkünden.

Muss es nicht dennoch viel Kraft und Disziplin kosten, in zwei Jahren über 250 Konzerte zu spielen?
Feidman: Wissen Sie, mein Vater war ein wunderbarer Lehrer. Er brachte mir die Klarinette nahe, indem er sie einmal wie zufällig auf dem Tisch vergaß. Ich spielte schon sehr früh mit ihm. Und eines hat er mir dabei immer vermittelt: »Du bist ein Diener der Gesellschaft.« Als solchen betrachte ich mich auch. Und wenn es mir gelingt, durch meine Musik Menschen zu berühren und sie dazu zu bewegen, für den Frieden einzustehen, dann ist mir auch in meinem Alter kein Auftritt zu anstrengend und kein Ort zu weit.

Also so etwas wie ein dienender »König des Klezmers«?
Feidman:
Das Leben ist sehr kostbar. Ich sage ja auch nicht, dass es leicht ist. Aber die Seele ist sehr empfindlich, und wir müssen etwas daraus machen. Das verstehe ich als meine Mission. Außerdem habe ich eine große Demut vor dem Leben.

Ihre Mutter hat einmal zu Ihnen gesagt: Männer weinen nicht.
Feidman: Und ich sage meinen Kindern und Enkeln heute: Männer dürfen auch mal weinen, warum denn nicht?

Was alles hat sich seit dem 7. Oktober für Sie beide verändert?
Montazer: Für die Zeit unmittelbar nach dem großen Massaker hatten wir beide eine Tournee in der Schweiz geplant. Kurzzeitig überlegten wir, ob wir alles absagen oder nicht. Dann aber dachte ich mir: Jetzt werde ich erst recht für den Frieden komponieren.
Feidman: Sehen Sie, als meine Frau noch lebte, hatten wir einen kleinen Garten und einen arabischen Gärtner, der uns aushalf. Er brachte seinen Gebetsteppich zur Arbeit mit, und wenn es so weit war, rollte er ihn aus. Und wir haben das unterstützt. Es war normal, diese Normalität wünsche ich mir wieder. Ich habe viele Freunde, die Palästinenser sind.

Haben Sie am 7. Oktober auch Freunde verloren?
Feidman: Obwohl mich dieser Konflikt sehr mitgenommen hat, ich viele Menschen aus meinem direkten Umfeld nach dem Angriff der Hamas verloren habe und zwei meiner Enkelkinder zurzeit beim Militär sind, versuche ich, mich nicht nur mit negativen Gedanken zu befassen. Auch halte ich es für falsch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Was dürfen wir von der »Revolution of Love«-Tour erwarten?
Montazer: Für das Album habe ich elf Titel geschrieben. Jeder davon ist Teil einer friedlichen Demonstration, zu der wir alle einladen. Der Erfolg der »Friendship Tour« hat uns motiviert, weiterzumachen. Wenn ich komponiere, versuche ich, mich auf etwas Positives zu konzentrieren. Und die Liebe ist ein mächtiges Instrument.
Feidman: Die ganze Menschheit muss sich grundlegend ändern! Und wir stellen die Frage: Was könnte man alles machen, wenn das viele Geld anstatt in Kriege in Kultur und Bildung investiert würde?

Sie treten sehr häufig in Deutschland auf. Warum?
Feidman: Zum einen liegt das an einem wunderbaren Publikum, und ich fühle mich in Deutschland sehr zu Hause. Zum anderen beweise ich damit: Wenn es für einen Juden möglich ist, nach so einer Vergangenheit wieder in Deutschland zu leben oder zu spielen, dann ist Heilung überall auf der Welt möglich.

Kann man also Menschen, die radikalisiert sind, zurückholen?
Feidman:
Das zeigt die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Mithilfe der Musik lässt sich alles überwinden. Davon bin ich überzeugt.

Sind Sie ein großer Optimist?
Feidman:
Aus Metall kann man Waffen bauen, aber auch Musikinstrumente. Jeder von uns hat die Wahl.

Wie verhält es sich mit der Liebe? Warum dieser Titel für die neue Produktion?
Feidman:
Nach meiner Scheidung sagte ich: Nie wieder werde ich heiraten! Es hat eine Weile gebraucht. Und dann gab es meine Managerin, die Komponistin Ora Bat Chaim, die auch geschieden war und ebenfalls nie wieder heiraten wollte. Und dann entwickelte sich unsere Liebe, und wir haben 1975 doch noch einmal Ja gesagt. Bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren waren wir sehr glücklich miteinander. Sie war die einzige Frau, die mich ausgehalten hat! Die Macht der Liebe kann also alles überwinden, auch Wunden.

Und was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen?
Feidman:
Zu meinem 90. Geburtstag machen wir eine Tour durch Israel!

Mit den beiden Musikern sprach Alicia Rust.

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  10.12.2024

Glosse

Der Rest der Welt

»Mein kleiner grüner Kaktus« – ein Leitfaden für Frauen von heute

von Nicole Dreyfus  10.12.2024

Gelsenkirchen

Bayern-Trainer Kompany: Daniel Peretz genießt mein Vertrauen

Daniel Peretz soll Manuel Neuer bis zum Jahresende im Bayern-Tor vertreten. Trainer und Mitspieler vertrauen dem Israeli. Neuer könnte in einem Monat in Gladbach zurückkehren

 10.12.2024