Redezeit

»Wir erinnern an das Schreckliche«

Herr Brusilovsky, woran erkennt man einen Juden?
(lacht)
Was mich betrifft: große Nase, Plattfüße, dunkle Haare. Beschnitten bin ich auch. Dazu noch mein starker hebräischer Akzent. Auf mich persönlich treffen also fast alle antisemitischen Stereotype zu. Aber im Ernst: Ab dem 19. Jahrhundert, als Juden versuchten, wie der Rest der europäischen Gesellschaft auszusehen, haben die Gojim wirklich angefangen, sich die Frage zu stellen: Woran kann man eigentlich einen Juden erkennen? Am Jiddeln? Am schnellen, gebückten Schtetl-Gang?

In Ihrem neuen Theaterstück »Woran man einen Juden erkennen kann« spielen Sie mit diesen Klischees ...
Ja, die Ähnlichkeiten und Unterschiede meiner jüdischen Schauspieler werden in dem Stück ständig thematisiert. In Bezug auf eine Vorstellung von Juden versuche ich, die Vielfalt zu zeigen. Der erste Eindruck in meinem Stück ist zudem, dass Juden sehr schöne Menschen sind, da ich, wie gesagt, ausschließlich mit gut aussehenden jüdischen Schauspielern gearbeitet habe. Diesen Eindruck konfrontiere ich mit NS-Propagandatexten, in denen Juden naturgemäß nicht so gut wegkommen.

Ein Satz, der im Stück immer wieder vorkommt, ist: »Es gibt immer noch keine Normalität!« Woran machen Sie das fest?

Nehmen Sie allein die Reaktionen einiger jüdischer und nichtjüdischer Besucher. Manche haben sich darüber aufgeregt, dass wir die Schoa thematisieren. Sie sind nicht in der Lage, eine Diskussion über Juden in Deutschland zu akzeptieren, deren Ausgangspunkt die Schoa ist. Dabei ist der Holocaust definitiv der Moment, ab dem Juden hier fast unsichtbar geworden sind. Diese Zuschauer halten sich für so aufgeklärt, dass sie blind sind.

Sie beschäftigen sich auch mit dem Versuch mancher Juden, deutscher als die Deutschen zu sein. An einer Stelle bricht es dann aus dem zum Protestantismus konvertierten Protagonisten heraus, und er jiddelt unaufhörlich.
Ich muss immer lachen, wenn ich diese Szene sehe, weil sie mich an die Versuche junger Israelis in Berlin erinnert, deutsch zu werden. Das ist auch meine eigene Geschichte. Mich ärgert es, wenn die Leute merken, dass ich Israeli bin. Ich träume von einer perfekten deutschen Aussprache – und werde immer wieder mit meinem hebräischen Akzent »erwischt«.

Kafka hat über das Buch gesagt, es müsse »die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«. Welche Funktion hat Ihrer Ansicht nach das Theater?
Das Theater ist der Ort, der unsere Art, außerhalb der Bühne zu spielen, sichtbar macht. Er ermöglicht uns, die Sozialmaske des Alltags auszuziehen, indem wir eine Theatermaske anziehen. Um etwa zu verstehen, wie mein jüdischer Körper aussieht, muss ich eine blonde Perücke anziehen. Das ist kein Paradox, sondern Dialektik.

Was, glauben Sie, denkt die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland über die jüdische Gemeinschaft?
Nicht wenige haben Angst vor uns. Die Angst höre ich sehr deutlich, wenn etwa von Juden in den Medien geredet wird. Wir werden immer extrem ernst genommen, denn wir erinnern die Menschen an das Schreckliche unserer gemeinsamen Geschichte.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.

www.bat-berlin.de

Netflix-Serie

Balsam für Dating-Geplagte? Serienhit mit verliebtem Rabbiner

»Nobody Wants This« sorgt derzeit für besonderen Gesprächsstoff

von Gregor Tholl  23.10.2024

Herta Müller

»Das Wort ›Märtyrer‹ verachtet das Leben schlechthin«

Die Literaturnobelpreisträgerin wurde mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

von Herta Müller  23.10.2024

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Dokumentation

»Eine Welt ohne Herta Müllers kompromisslose Literatur ist unvorstellbar«

Herta Müller ist mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis ausgezeichnet worden. Lesen Sie hier die Laudatio von Josef Joffe

von Josef Joffe  23.10.2024

Literatur

Leichtfüßiges von der Insel

Francesca Segals Tierärztin auf »Tuga«

von Frank Keil  21.10.2024

Berlin

Jüdisches Museum zeigt Oppenheimers »Weintraubs Syncopators«

Es ist ein Gemälde der Musiker der in der Weimarer Republik berühmten Jazzband gleichen Namens

 21.10.2024

Europa-Tournee

Lenny Kravitz gibt fünf Konzerte in Deutschland

Der Vorverkauf beginnt am Mittwoch, den 22. Oktober

 21.10.2024

Geistesgeschichte

Entwurzelte Denker

Steven Aschheim zeigt, wie jüdische Intellektuelle den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts begegneten

von Jakob Hessing  21.10.2024

Heideroman

Wie ein Märchen von Wölfen, Hexe und Großmutter

Markus Thielemann erzählt von den Sorgen eines Schäfers

von Tobias Kühn  21.10.2024