»Alles was war«

Wie wir wurden, was wir sind

Michel Bergmann Foto: Anke Apelt

Wer Michel Bergmanns Romantrilogie Die Teilacher (2010), Machloikes (2011) und Herr Klee und Herr Feld (2013) kennt, wird in seiner neuen Erzählung Alles was war alten Bekannten begegnen. Und doch wird dieses Wiedersehen ein ganz anderes sein, näher, intensiver – die komprimierte Essenz eines Lebens, vieler Leben, auf 128 Seiten. Bergmann führt uns durch die Zeit und die Straßen seiner Kindheit, durch das Frankfurt am Main der unmittelbaren Nachkriegszeit und der 50er-Jahre.

Sein Protagonist, ein alter Mann, der ein Kind beobachtet, schreibt in der IchForm, und wir ahnen, dass diejenigen, die keine Namen haben, »das Kind«, »der Junge«, »die Mutter«, »der Vater« und »der Onkel« (in dem wir David Berman, den attraktiven Lebemann aus den vorangegangen Romanen, wiedererkennen) – dass diese Personen dem Erzähler sehr nah und sehr vertraut sind.

Alltag Alles was war schildert die jüdische Welt in Westdeutschland nach der Schoa. Michel Bergmann zeichnet den Alltag der Überlebenden und ihre Erzählungen, beschreibt, wie all das auf das Kind einwirkt, auf ihm lastet und es furchtbar nervt, wobei es doch gleichzeitig tiefe Empathie für seine Eltern empfindet und für ihre Freunde, die das gleiche Schicksal hatten. Es geht nicht zuletzt auch um die Begegnungen mit der nichtjüdischen Umwelt, die dem Jungen fremd ist, um seine Gefühle und Unsicherheiten, seine Ängste. Man spürt sie mit, die Fremdheit und Beklemmung.

Doch dann gibt es wieder wunderbar witzige Episoden, bei denen man sich schüttelt vor Lachen. Etwa, wenn die Barmizwa des Jungen beschrieben wird und seine Rebellion gegen autoritäre Lehrer und Ungerechtigkeiten. Oder wenn die schöne, starke Mutter unbelehrbaren Nazis – es gab so viele in jener Zeit – immer wieder offensiv und selbstbewusst entgegentritt.

Und vor allem bei der herrlichen Weihnukka-Geschichte, allein deretwegen schon die Lektüre des Buches unbedingt lohnt. Nur so viel sei hier angedeutet: Ein berühmter kommunistischer Komponist, der mit seinem Judentum schon lange eigentlich nichts mehr zu tun haben will, wird genötigt, am Klavier Chanukkalieder zu spielen, und ein nicht minder berühmter, der Dialektik der Aufklärung verpflichteter Philosoph gibt den Weihnachtsmann – bis der Rabbiner kommt und der Christbaumschmuck eilends versteckt werden muss.

Heimat Das findet statt in den Resten des Frankfurter Jüdischen Krankenhauses, einer Art Zwangswohngemeinschaft für Überlebende und Michel Bergmanns erstem und unvergessenem Stück Heimat im Frankfurt der frühen 50er-Jahre – ein paradiesischer Ort für den Jungen, der dort auch seinen besten Freund kennenlernt, Marian, dem das Buch gewidmet ist.

Michel Bergmann erzählt eine wunderbare, melancholische, rührende Geschichte voller Witz und Charme. Man lacht, weint und trauert mit dem Jungen, der inzwischen zum Mann geworden ist. Am Ende kommen sie zusammen, der alte Mann und das Kind, für kurze Zeit verschmelzen sie zu einer Person, bevor der Ich-Erzähler wieder seine Position des Beobachters einnimmt.

Alles was war taucht ein in eine Zeit, die lange her ist. Aber für uns, die wir in der Nachkriegszeit geboren sind, als der Krieg noch zu spüren, zu riechen, zu sehen war, ist das alles, was damals war, prägend und sehr nah.

Michel Bergmann: »Alles was war«. Erzählung. Arche, Hamburg 2014, 128 S., 14 €

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Los Angeles

Schaffer »visionärer Architektur«: Trauer um Frank Gehry

Der jüdische Architekt war einer der berühmtesten weltweit und schuf ikonische Gebäude unter anderem in Los Angeles, Düsseldorf und Weil am Rhein. Nach dem Tod von Frank Gehry nehmen Bewunderer Abschied

 07.12.2025

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025