»Der Friedhof in Prag«

Weltkarriere einer Fälschung

Umberto Ecos historischer Kriminalroman über die »Protokolle der Weisen von Zion«

von Christoph Gutknecht  25.10.2011 09:33 Uhr

Bis heute werden die »Protokolle« international unters Volk gebracht: aus Will Eisners Graphic Novel »Das Komplott« Foto: Hanser

Umberto Ecos historischer Kriminalroman über die »Protokolle der Weisen von Zion«

von Christoph Gutknecht  25.10.2011 09:33 Uhr

»Die Geschichte ist das Reich der Fälschung, der Lüge und der Dummheit«, sagt Umberto Eco. Dreißig Jahre nach dem Welterfolg Der Name der Rose legt der »Bestseller-Professor« (so der Titel eines 2005 gedrehten Dokumentarfilms über ihn) einen neuen historischen Kriminalroman vor. Das Buch spielt von 1830 bis 1897 in Paris und verblüfft durch seine Komposition – eine verzwickte Collage aus Berichten zu realen Politik-Affären des 19. Jahrhunderts, um die sich wirre antisemitische Verschwörungsfantasien ranken.

urkundenfälscher Fiktiv ist nur die Schlüsselfigur: der fettleibige, ruchlos-rassistische Betrüger Simone Simonini, neurotischer Hasser von Deutschen, Italienern, Frauen, Freimaurern, Jesuiten und Juden. Das Urkundenfälschen lernt er bei einem Notar, verdingt sich als Agent provocateur für Terroristen, als Spion und Mörder von Turin bis Palermo, wird am Ende zum Attentäter auf den Métrobau in Paris. Simonini ist der Stratege hinter dem Schiffsunfall, bei dem Garibaldis Adjutant, der Publizist Ippolito Nievo, zu Tode kommt, sowie bei der Karriere des zum katholischen Glauben gewechselten Hochstaplers Léo Taxil und dessen Enthüllung angeblicher satanischer Freimaurer-Riten. Auch ist er Urheber der Geheimdepesche, die den jüdischen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus des vermeintlichen Landesverrats überführt, und der erfundenen Berichte über ein Rabbiner-Treffen auf dem Friedhof im Prager Altstadtviertel Josefov, das dem Schmieden kruder Weltherrschaftspläne gilt.

protokolle Die Romanform, so Eco zum Literaten Claudio Magris, habe er gewählt, um eine »wahre Geschichte« zu erzählen. Es ist die Geschichte der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion. Das 80-seitige Machwerk ist eine Fälschung, wie spätestens 1921 Philip Graves, Korrespondent der Londoner Times nachwies. An der fatalen Wirkung des Pamphlets änderte das nichts. Henry Ford ließ es 1920 in den USA in Millionenauflage drucken. Adolf Hitler bezog sich in Mein Kampf darauf; die Echtheit unterstellte der Naziführer schon allein deswegen, weil die von ihm als »jüdisch« bezeichnete »Frankfurter Zeitung« die Authentizität angezweifelt hatte; auch Julius Streicher rühmte die Protokolle immer wieder in seinem »Stürmer«. Zurecht wertet der britische Historiker Norman Cohn das Pamphlet als »Rechtfertigung für den Völkermord«. Die angebliche Blaupause zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft wird bis heute als angeblich echtes Dokument verbreitet, aktuell vor allem in islamischen Ländern, etwa von der Hamas, aber auch in Russland.

Neue textkritische Arbeiten des Slawisten Cesare G. De Michelis zu russischen Textvarianten deuten auf mehrere Plagiatoren hin. Für das konspirative Opus wurde dreist kompiliert – aus Maurice Jolys satirischem Traktat Gespräche aus der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu (1864), aus Alexandre Dumas’ Werk Joseph Balsamo (1864) und dem Schauerroman Biarritz (1868) des antisemitischen Postbeamten Herrmann Goedsche (alias Sir John Retcliffe). Eingestreut sind Absätze aus den von dem galligen Jesuiten Abbé Barruel verfassten Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus (1800-1804) und Passagen aus drei Romanen Eugène Sues, des meistgelesenen Autors seiner Zeit: Geheimnisse von Paris (1842), Der ewige Jude (1844) und Geheimnisse des Volkes (1857).

fakten und fiktion Eco ist fasziniert von der Intertextualität der Pseudo-»Protokolle«, der Verwobenheit ihrer literarischen Bezüge. Als Semiotiker und Allesleser hat er sie akribisch aufbereitet. Nicht zum ersten Mal: Bereits 1989 ging es um die Protokolle im Foucaultschen Pendel, Ecos literarisch verzierter Enzyklopädie esoterischer Lehren, ebenso 1994 in seinen als Im Wald der Fiktionen (1996) edierten Harvard-Vorlesungen zur Erzähltheorie und auch 2005 im Vorwort zu Will Eisners Comicroman Das Komplott. Doch nirgendwo sind genuine Quellen und Fantasien so eng verzahnt und arg verwoben wie hier.

Mit Raffinement beschreibt der Universalgelehrte Eco den Sieg von Fiktionen über Fakten. Dabei erschafft er in dem Roman selbst einen Mythos, wenn er die Protokolle als Ausgeburt des schizoiden Hirns eines Einzelnen stilisiert, den Raffgier und die Devise »odi, ergo sum« (ich hasse, also bin ich) zu Aktivitäten für politische Drahtzieher bewegen. Sigmund Freud – »Doktor Froïde«, wie er im Roman heißt – lässt grüßen! Eco hat auch diverse Drucke aus seinem eigenen Archiv in den Text eingefügt, darunter sinistere Karikaturen über Juden aus Hetzblättern des 19. Jahrhunderts.

missverständlich? Manche Kritiker, wie Riccardo Di Segni, der Oberrabbiner von Rom, befürchten allerdings, dass sich unbedarfte Leser des Romans der Faszination des Bösen hingeben und darüber die mörderische Realität der »Protokolle« übersehen könnten. In der Zeitschrift »Pagine Ebraiche« fragte Di Segni mit Blick auf die im Werk ausufernd präsentierten antisemitischen Zerrbilder: »Sollten wir Umberto Eco dafür danken, dass er auf so wunderbare Weise die Geschichte einer Fälschung aufgeschrieben hat, oder sollten wir Angst haben, dass man sie missverstehen könnte? Ehrlich gesagt: Ich weiß es auch nicht.« Eco selbst wischte solche Bedenken im Februar 2011 auf der Jerusalemer Buchmesse vom Tisch: »Alle identifizieren sich mit den Figuren eines Buches, auch mit den negativen, ohne jedoch ihre Verbrechen und Schandtaten zu begehen.«

Der Friedhof in Prag ist von Umberto Eco auf Italienisch verfasst und von Burkhart Kroeber exzellent ins Deutsche übersetzt worden. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds, war Kroeber dabei, wie er sagt, »nicht nur als Berichterstatter oder Wissensvermittler«, sondern als »Mit- oder Zweitautor« aktiv, der »das Spiel des Autors komplizenhaft mit- und weiterspielen musste«. Ob es um Details in Pariser Gassen, peinliche Manifestationen ethnischer Vorurteile oder penible Auflistungen alchimistischer wie kulinarischer Rezepte geht – diese deutsche Fassung vermeidet es, den »rebellischen Text« des Schriftstellers »in das Gefängnis der normalen Sprache zu sperren«, um mit Ortega y Gasset zu sprechen. »Traduttore, traditore«, sagen die Italiener: der Übersetzer ein Verräter. Für Kroeber trifft das Gegenteil zu: Er findet von der Logik des Satzes zur Freiheit des Stils – eine famose Leistung.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2011, 528 S., 26 €

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