Literatur

Wehmut, Witz und Wollpullover

Wie sehr Amos Oz (1939–2018) Israel und seine Menschen liebte, erfährt man auf jeder Seite. Foto: Getty Images

Literaturkritiker sind Karpfen in der Badewanne. Nein, liebe Leserin, lieber Leser, das erkläre ich Ihnen jetzt nicht sofort. Erst einmal sollen Sie wissen, wie unsereins neue Bücher durcharbeitet. Die Fahnen kommen per Post, wir lesen uns fest, alle paar Seiten setzen wir mal einen kleinen Bleistiftstrich, kleben sieben oder elf Zettelchen in die Seiten, blättern in älteren Büchern des Autors, vergleichen, warten und 
schreiben. So geht das. Theoretisch.

So funktioniert es aber nicht, wenn Amos Oz und seine Lektorin über das Leben, die Liebe, den Eros, Kibbuzim, Israel, die Jugend, Religion, Politik, das Alter, das Schreiben und den Tod gesprochen haben. Dann kleben in 170 Seiten 150 gelbe Post-It-Zettelchen, es ist jede zweite Zeile fett unterstrichen, überall krakeelen Ausrufezeichen, und zudem wird der Ehemann voll eingespannt, denn nach jedem dritten Absatz rennt die Rezensentin ins Nebenzimmer und liest eine der hinreißenden Anekdoten oder der tiefgründigen Gedanken vor, die Shira Hadad, so heißt Amos Oz’ junge, hübsche israelische Lektorin, in Dutzenden Stunden vom Großmeister der Weltliteratur erfahren hat.

KIBBUZ Beide, die Lektorin und der Autor, waren sich anlässlich ihrer vielen Unterhaltungen bald einig, nebenbei ein Aufnahmegerät laufen zu lassen. Und so ist ein wunderbar bewegendes, witziges, lebenskluges, aber auch melancholisches Buch entstanden, das ein klein wenig die Trauer um den Tod dieses Dichters mildert.

Die Gespräche begannen 2014 während Oz’ Arbeit an dem Roman »Judas«.

2014, bei der Arbeit an Oz’Judas, begannen die Gespräche und setzten sich auch nach diesem Roman fort. Oz hat alles, was er sah und fühlte, erlebte und verarbeitete, in Literatur, in Kunst gefasst. »Mein Nachbar im Kibbuz Hulda, Meir Sibahi, pflegte zu sagen: Bevor ich an dem Fenster vorbeigehe, hinter dem Amos schreibt, bleibe ich immer kurz stehen, ziehe meinen Kamm raus und kämme mich. So bin ich, falls ich in eine Geschichte von ihm eingehe, wenigstens gekämmt.«

Auf diese Weise jedoch arbeitete Oz nicht. Nie hätte er Begebenheiten oder Charaktere ohne poetische Ebene beschrieben. Daher auch die Frage des Titels: Was ist ein Apfel? Oz erklärt das so: »Was macht einen Apfel aus? Wasser, Erde, Sonne, ein Apfelbaum und etwas Dünger – der Apfel ähnelt keinem dieser Dinge. Sie alle machen ihn aus, aber er ist ihnen nicht ähnlich. So ist das mit Geschichten. Sie bestehen wohl aus der Summe der Begegnungen, der Erfahrungen und aus sehr viel Zuhören.«

Das Zuhören hat das Einzelkind Amos, damals noch Klausner, notabene lernen müssen, in, wie er erzählt, 77 Stunden ununterbrochener Unterhaltung seiner Eltern mit Freunden, die er nicht stören durfte. Um nicht verrückt zu werden vor Einsamkeit, begann er, die Nachbartische auszuspionieren. »Ich stahl Sätze aus Gesprächen, schaute, wer was bestellte, wer bezahlte, manchmal versuchte ich sogar, mir aufgrund ihres Aussehens und ihrer Körpersprache vorzustellen, woher sie kamen und wie es in ihrer Wohnung aussah.«

Der Humor führt fast in jeder Geschichte Regie.

MINISTERPRÄSIDENTEN Nach diesem biografischen Beginn von späterer Weltliteratur folgte ein langes und keineswegs immer glückliches Leben im Kibbuz, bevor Oz mit 47 Jahren wusste, dass er seiner Familie und sich eine unabhängige Existenz als Schriftsteller bieten wollte, nicht ohne schlechtes Gewissen allen gegenüber, dem Kibbuz, den Kindern und sich selbst. Mit wachsendem Erfolg engagierte er sich gesellschaftlich und politisch und war bei einigen Ministerpräsidenten zum Abendessen eingeladen, zum vertraulichen Gespräch.

»›Was haben wir falsch gemacht?‹, ›Welche Richtung müssen wir jetzt einschlagen?‹ Fast alle – nicht Ben Gurion, aber Golda, Eschkol, Schamir und Peres –, alle sagen mir ›Wie toll Sie formulieren! Was für ein Iwrit! Was für eine Ausdruckskraft. Sie haben zwar nicht recht, aber wie Sie formulieren!‹ Einmal im Leben, nur ein Mal möchte ich erleben, dass ein Ministerpräsident zu mir sagt: ›Amos Oz, Sie reden Scheiße, die Wörter fügen sich nicht zusammen, aber Sie haben recht.‹«

Es sind Anekdoten wie diese, die das Gesprächsbuch so tiefgründig witzig machen. Der Humor führt fast in jeder Geschichte Regie. Wenn Oz von der 102-jährigen Dame erzählt, die zweimal pro Woche mit Bussen quer durch Tel Aviv zu verschiedenen Altersheimen fährt, um ihren Söhnen deren Lieblingsessen zu bringen. Oder dies: Oz hat irgendwann beschlossen, nicht mehr im Fernsehen aufzutreten. Er hatte vor den Gefahren gewarnt, die Israel drohen. Am nächsten Tag hielten ihn Freunde und Bekannte aufgeregt auf der Straße an. »Was ist mit Ihnen los. Wie konnten Sie das machen? Sind Sie verrückt geworden? Ziehen Sie nie mehr im Fernsehen diesen Pullover an! So habe ich darauf verzichtet, im Fernsehen aufzutreten, aber auf den Pullover verzichte ich nicht.«

WASSER Israel. Wie sehr er dieses Land und seine Menschen liebt, erfahren wir auf jeder Seite. Die Lektorin ist dabei keine Stichwortgeberin, sie kennt jedes seiner Werke und vertritt gerade in frauenemanzipatorischen Belangen andere Ansichten als der Dichter. Dessen jugendliche Qualen mit dem Eros und dem anderen Geschlecht lassen eine Zeit aufleben, in der Tinder und Pornosternchen vor Webcams noch keine schnelle Erlösung boten. Ein kleiner Kugelschreiber mit einer nackten Blondine im Inneren ließ die Jungs vom ewigen Geheimnis der Liebe träumen, Tempi passati ...

Nicht immer vertreten der Autor und seine Lektorin die selben Ansichten.

Es liegt Witz und Wehmut über den Gesprächen. Gern würde Oz als Toter hin und wieder seine Enkel und Urenkel besuchen, dann wäre das Nichts erträglicher. Er sei doch so neugierig. Außerdem sei das Licht noch immer so angenehm für die Augen, so sein letzter Satz.

Und wieso sind wir Rezensenten jetzt Karpfen in der Badewanne? Lässt du den Stöpsel raus, sagte Samuel Agnon einmal zu Oz, schnappen sie nach Luft. Lässt du Wasser ein, schwimmen sie munter weiter. Das Wasser ist die Literatur. Wird der Stöpsel aber gezogen, so ist dieses Luftschnappen jene Zeit, in der Kritiker auf das nächste Buch warten. Kritiker brauchen Bücher ihrer Lieblingsautoren zum Leben so wie Karpfen das Wasser. Von Amos Oz wird es keine weiteren Bücher geben, auch diese Tatsache macht Was ist ein Apfel? so einzigartig.

Amos Oz (mit Shira Hadad): »Was ist ein Apfel?«. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Suhrkamp, Berlin 2019, 174 S., 20 €

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