Jewish Chamber Orchestra Munich

Was ist jüdische Musik?

Ein neues Projekt schafft ein großes Online-Archiv für selten gespielte und unbekannte Werke

von Florian Amort  18.04.2021 00:13 Uhr

Sehenswert: die Online-Videos des Jewish Chamber Orchestra Munich Foto: Jewish Chamber Orchestra Munich

Ein neues Projekt schafft ein großes Online-Archiv für selten gespielte und unbekannte Werke

von Florian Amort  18.04.2021 00:13 Uhr

Schon lange trug der Dirigent und künstlerische Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM), Daniel Grossmann, die Idee mit sich herum, einen YouTube-Kanal zu eröffnen, um die verschiedenen Projekte des Ensembles auch außerhalb des Konzertsaals einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. »Es entsteht gerade eine Art Archiv jüdischer Musik und Kultur mit selten gehörten Werken und anderen, auch musikfernen jüdischen Themen«, berichtet Grossmann im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.

Seit dem Start des Projekts von Grossmann – der 2005 das Ensemble noch unter dem Namen Orchester Jakobsplatz in seiner Heimatstadt München gründete – vor einem halben Jahr sind bereits mehr als 70 Videos online, darunter eine Einspielung von Gustav Mahlers »Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit« und diverse Streicherwerke jüdischer Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Clips Aufnahmen von traditionellen jüdischen, hier jedoch synagogenuntypisch mit Orchester begleiteten Gesängen mit Chasan Yoni Rose sind ebenso zu finden wie biografische Reportagen zu den eher unbekannten jüdischen Komponisten Gideon Klein, Arthur Lourié, Mátyás Seiber und Mordecai Seter, aber auch zum Judentum bekannter Tonsetzer wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler. Informative Clips über die jüdischen Feiertage sowie Porträts einzelner Musiker aus dem bunt gemischten und keineswegs nur aus Juden bestehenden Ensemble ergänzen zusammen mit den Rubriken »Fundstücke« und »Jewish Culture Now« den breiten Blick auf die jüdische Kultur und Religion.

Was genau jüdische Musik ist, darüber herrscht seit Jahrhunderten Streit.
»Es hat mich immer sehr gestört, dass in der deutschen Öffentlichkeit jüdische Bräuche und jüdische Kultur überhaupt keine Rolle spielen«, sagt Grossmann über die Gründung des neuen Online-Archivs. »In London, New York oder Paris sind sie vollkommen normal und vermitteln eine ganz andere Lebendigkeit! Ich hatte die Idee, dass ich diesen Zustand in Deutschland durch ein Orchester ändern könnte – und glücklicherweise hatten wir mit unseren Projekten bislang sehr viel Erfolg.«

bewusstsein Tatsächlich ist das Wissen über das Judentum im öffentlichen Bewusstsein denkbar gering und leider oftmals ausschließlich mit der Schoa verbunden, trotz 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland und trotz zahlreicher Institutionen, Initiativen, Ensembles und Privatpersonen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel setzten, die jüdische Musik und Lebenskultur in Deutschland in all ihren Erscheinungsformen zu erforschen, zu rekonstruieren, zu dokumentieren, zu vermitteln und in Konzerten zur Aufführung zu bringen.

Was genau jüdische Musik ist, darüber herrscht seit Jahrhunderten in der Musikwissenschaft und bei Musikern selbst Streit. Ist es die Musik von jüdischen Komponisten? Ist es die Musik von Komponisten, die von außen dem Judentum zugeschrieben wurden? Oder sind es Werke, die aus dem jüdischen Leben selbst stammen und sich auf selbiges beziehen?
Über 70 Videos finden sich auf dem YouTube-Kanal. Pro Woche kommen zwei hinzu.

Für Richard Wagner, die Nationalsozialisten und erschreckenderweise auch für viele Menschen unterschiedlichster Couleur heute – auch aus einem dezidiert linken Milieu – zählt sämtliche Musik, die ein Jude komponierte, zum Gebiet der jüdischen Musik. Ob dies nun biologistisch oder anderweitig deterministisch begründet wird, ist für den rassistischen Kern einer solchen Definition unerheblich. Denn es ist ernsthaft die Frage zu stellen, in welchem Sinne Felix Mendelssohn Bartholdy oder Walter Braunfels nur aufgrund ihres familiären Milieus automatisch jüdische Komponisten sein sollen. Oder handelt es sich hier nicht vielmehr um »gut gemeinte« Fortschreibungen von NS-Kategorisierungen bis in die Gegenwart?

synagoge Für andere bezieht sich jüdische Musik ausschließlich auf die Musik für den Synagogengottesdienst, was allerdings nur der Kern eines viel größeren Bereichs sein kann. Arnold Schönbergs unvollendet gebliebene Oper Moses und Aron, Paul Dessaus Oratorium Hagadah shel Pessach oder Kurt Weills monumentales Bibelspiel The Eternal Road setzen sich ebenfalls grundlegend mit dem Judentum auseinander, sind allerdings allesamt nicht für die Synagoge komponiert.

Jascha Nemtsov, Professor für Musikwissenschaft in Weimar, schlägt einen inklusiven Ansatz vor: »Für mich gehört jedes Werk dazu, das sich musikalisch oder inhaltlich mit jüdischer Identität auseinandersetzt. Jüdische Identität ist vielfältig und kann auch religiös ungebunden sein, entsprechend vielfältig ist auch die jüdische Musik«, betont Nemtsov. »Ich gebe aber auch Kurse über verfolgte Komponisten im Holocaust, von denen sicherlich nicht alle an jüdischer Musik und Kultur interessiert waren oder jüdische Musik komponierten. Aber sie wurden trotzdem als Juden verfolgt, das ist eine biografische Tatsache. Daher würde ich diesen Personenkreis auch nicht ausschließen, nur, weil meine Professur ›Geschichte der jüdischen Musik‹ heißt.«

ärger Auch Daniel Grossmann und das JCOM verfolgen einen solchen breiten Ansatz. Sie bringen nicht nur Werke jüdischer oder jüdisch-stämmiger Komponisten zur Aufführung, sondern pflegen auch den traditionellen Synagogengesang, den sie anknüpfend an die besonders in Amerika beliebten »Cantors’ Concerts« mit einem orchestralen Arrangement begleiten.

Besonders misslich sind für Grossmann allerdings die festgefahrenen Rezeptionsmechanismen: »Mich ärgert es einfach, wenn Alben mit dem Titel Die Theresienstädter Komponisten erscheinen. Viktor Ullmann war kein Theresienstädter Komponist, er hatte ein Leben davor, und zu seiner Würde gehört, dass man auch über sein Leben davor spricht. Zumal die meisten dieser Komponisten mit dem Judentum auch wenig am Hut hatten. Ich möchte viel lieber fragen: Welcher Platz gebührt diesen Komponisten außerhalb dessen, dass sie ein tragisches Schicksal erlitten haben? Und wenn unser YouTube-Kanal zu einer Sensibilisierung beiträgt, bin ich schon zufrieden.«

Mit der Tanzgroteske Die Mondsüchtige porträtiert das JCOM aktuell den Komponisten Erwin Schulhoff, einen der experimentierfreudigsten und radikalsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Schon allein diese Aufnahme macht JCOM-TV, den YouTube-Kanal des Jewish Chamber Orchestra Munich, zu einem der verdienstvollsten und spannendsten Musikprojekte dieses Jahres.

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