Kolumne

Von der Verheißung zum Manöver

Bild vom russisch-belarussischen Manöver »Sapad« in der Region Nischni Nowgorod im September 2021 Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Dieses Wort steht für Verheißung wie für Verbitterung. »Sapad«, der Westen, ist vielleicht die russische Schlüsselvokabel der vergangenen Jahrzehnte. Als ich in den 90er-Jahren in Minsk aufwuchs, war Sapad für viele die ultimative Utopie – das Gelobte Land, in dem statt sowjetischem Mangel, Zwang und Einheitsgrau allumfassende Freiheit, grelle Farben und unbegrenzter Konsum herrschen. Die eigentlich skeptisch-ironische Pet-Shop-Boys-Cover-Version von »Go West« wurde (nicht nur) für mich zur bejahenden Hymne des erhofften Aufbruchs.

Selbstverständlich hörte ich »Go West« auf einer raubkopierten Audiokassette vom Straßenmarkt, auf dem auch gefälschte »Adidas«-Markenklamotten und etliche andere – aus dem einige Autostunden westwärts liegenden Polen importierte – Waren erhältlich waren. Dass unsere Plattenbauwohnung in der Minsker Trabantenstadt Jugo-Sapad (Südwesten) lag, fügt sich ebenso ins Bild wie die Tatsache, dass der nicht weit entfernte Stadtbezirk Sapad für mich eine Terra incognita blieb.

Ostdeutschland war für meine Eltern der Westen schlechthin

Die Sache mit dem Westen begann schon lange vor meiner Geburt. Meinen Eltern etwa galt die (damals sowjetisch besetzte) lettische Hauptstadt Riga, die sie einmal als junge Erwachsene besuchten, als »Westen«. Nicht umsonst wurden dort viele sowjetische Filme gedreht, die in Europa spielten. Die DDR war für meine Eltern unerreichbar – nur handverlesene verdiente Sowjetbürger oder Armee-Angehörige konnten dorthin reisen. Ostdeutschland war für sie der Westen schlechthin.

Einige meiner Verwandten wollten wiederum nicht warten, bis das von Lenin geschaffene Gefängnis der Völker auseinanderfiel: Schon in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren schafften sie es unter teilweise abenteuerlichen Umständen, die Sowjetunion zu verlassen. Ihr neues Zuhause fanden sie in der Stadt West Hollywood an der amerikanischen Westküste. Wenn schon Sapad, dann richtig.

Kaum eine Verlautbarung des Kremls kommt heute ohne eine Verdammung des »kollektiven Westens« aus, während russische Propagandisten den baldigen Fall des Westens herbeisehnen.

Für andere Verwandte lag der Westen im Nahen Osten. Nicht alle Großtanten und -onkel, die in den 90er-Jahren nach Israel auswanderten, fanden dort ihr Gelobtes Land vor. Einige dieser postsowjetischen Olim sind heute stolze Israelis, andere kamen mit den Härten des nahöstlichen Alltags nicht klar und kehrten nach Belarus zurück.

Seine Strahlkraft hat der Westen längst eingebüßt – nicht erst, seit seine Führungsmacht unter Donald Trump die eigenen Bündnisse, Werte und Interessen infrage stellt. In Russland, Belarus und andernorts hat sich Sapad vom Vorbild zum Feindbild gewandelt. Kaum eine Verlautbarung des Kremls kommt heute ohne eine Verdammung des »kollektiven Westens« aus, während russische Propagandisten den baldigen Fall des Westens herbeisehnen.

Derweil wirft ein groß angelegtes belarussisch-russisches Militärmanöver an den Grenzen zu Polen und Litauen seine Schatten voraus. Es kursieren Befürchtungen, die für September angesetzte Großübung könnte sich zu einem russischen Angriff auf die NATO-Ostflanke auswachsen. Das Manöver heißt »Sapad«.

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