Nachruf

Von der Pille zu Platon

Carl Djerassi Foto: dpa

Nachruf

Von der Pille zu Platon

Zum Tod des Chemikers und Schriftstellers Carl Djerassi

von Ingo Way  31.01.2015 23:31 Uhr

Als »Vater der Pille« wurde Carl Djerassi oft bezeichnet. Damit war er selbst allerdings nicht besonders glücklich. Wenn überhaupt, sei er die Mutter der Pille, pflegte der Chemiker zu sagen, der Vater sei nämlich der Biologe Gregory G. Pincus gewesen.

Die Mutter der Pille heißt denn auch die Autobiografie des 1923 in Wien geborenen und später in die USA emigrierten Naturwissenschaftlers und Schriftstellers. Auf dem Buchcover ließ er sich mit rundem Schwangerschaftsbauch abbilden. Anfang der 50er-Jahre hatte Djerassi für das amerikanisch-mexikanische Pharmaunternehmen Syntex die Verhütungspille entwickelt, die ihm Ruhm, einen Lehrstuhl in Stanford, die National Medal of Science und historische Bedeutung einbrachte.

Neben diesem Meilenstein verblassten beinahe Djerassis weitere wissenschaftliche Verdienste. So war er etwa an der Entwicklung des ersten Antihistaminikums gegen Allergien beteiligt, synthetisierte das Hormon Kortison für die medizinische Nutzung und erhielt die National Medal of Technology für neue Verfahren zur Insektenbekämpfung. Felder, auf denen er maßgebliche Beiträge leistete, sagen wahrscheinlich nur Fachleuten etwas: zum Beispiel Steroidsynthese, Massenspektrometrie oder die Nutzung des Circulardichroismus (ein Verfahren zur Messung der Struktur von Molekülen) in der Chemie.

Kampfrituale Beide Eltern von Carl Djerassi waren Ärzte. Seine Mutter, Alice Friedmann, war aschkenasische Jüdin aus Österreich, sein Vater, Samuel Djerassi, sephardischer Jude aus Bulgarien. In Wien geboren, verbrachte Carl Djerassi seine ersten Lebensjahre in Sofia. Nach der Scheidung seiner Eltern kehrte der Fünfjährige mit seiner Mutter nach Wien zurück. Nach dem »Anschluss« Österreichs heirateten die Eltern erneut, damit Mutter und Sohn ausreisen konnten – zunächst nach Bulgarien, dann in die USA. Dort startete Djerassi als junger Mann seine steile Karriere in den Naturwissenschaften.

Nachdem er sich in den 80er-Jahren aus der aktiven Forschung zurückzog, schlug er eine zweite Laufbahn ein: diesmal als Schriftsteller. Djerassi schrieb Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Das Genre, das er begründete, nannte er selbst »Science-in-Fiction«. Djerassis Bücher handeln von der Welt der Wissenschaft als »Stammeskultur« und den Wissenschaftlern als Mitgliedern dieser Kultur.

In der Tradition der angelsächsischen »campus novel« erzählte Djerassi auf sehr unterhaltsame und manchmal urkomische Weise in vier Romanen und sieben Theaterstücken von der Arbeitsweise von Wissenschaftlern, von Intrigen und Eitelkeiten, von »Kampfritualen« – etwa über die Reihenfolge der Autorennamen bei Publikationen – oder davon, wie man am geschicktesten lügt, um Drittmittel einzutreiben.

Bioethik Als sein wichtigstes Werk bezeichnete Djerassi Vier Juden auf dem Parnass, ein fiktives Gespräch zwischen Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Arnold Schönberg. Darin befasste er sich mit der jüdischen Identität sowie den psychologischen und menschlichen Abgründen dieser vier Denker. Vor zwei Jahren erschien Djerassis letztes Buch in deutscher Sprache: Der Schattensammler. Die allerletzte Autobiografie.

Doch Djerassi verhandelte in seinen Büchern auch ethische Probleme, die sich beispielsweise aus der Verschränkung von Wissenschaft und Industrie auf dem Gebiet der Biotechnologie (in dem Roman NO) oder aus Fragen der künstlichen Befruchtung ergeben (Menachems Same). Später schrieb er auch Dialoge über ethische Probleme der Wissenschaft wie Stammzellforschung oder Reproduktionstechnologie für den Gebrauch an Schulen. Dabei zeigte sich Djerassi als konsequenter Gegner von Verboten etwa auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin. Er war überzeugt, dass es sich um ethische Fragen handelt, die der persönlichen Entscheidung des Einzelnen überlassen werden müssten und die den Staat nichts angehen.

Rückkehr »Es gibt heute kein dialogisches Schreiben in der Wissenschaft«, begründete er vor einigen Jahren während eines Vortrags in Berlin die Wahl dieses Genres. »Ich will damit an die Tradition der Platonischen Dialoge oder die Colloquien des Erasmus anknüpfen.« Immer wieder zog es Djerassi in den vergangenen Jahren zu Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen nach Deutschland und Österreich, sodass er sich 2009 wieder eine Wohnung in seiner Geburtsstadt Wien nahm.

Bei seinen Auftritten wirkte er auch in seinen späten Achtzigern noch wie ein höchst wacher und lebendiger 60-Jähriger. In einem Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen sagte er auf die Frage nach dem Kern seiner jüdischen Identität in seinem wienerisch gefärbten Deutsch: »Für mich ist das etwas sehr Dynamisches. In der Hitlerzeit in Wien bedeutete es etwas anderes als für den Emigranten in Amerika, der sich assimilieren wollte; etwas anderes für den erwachsenen Amerikaner. Und es hat wieder etwas ganz anderes bedeutet, als ich angefangen habe, meine europäischen Wurzeln wiederzufinden. Aber immer war ich Jude.«

In der Nacht zum Samstag ist Carl Djerassi an den Folgen einer Krebserkrankung im Alter von 91 Jahren in San Francisco gestorben.

Aufgegabelt

Iced Tahini Latte

Rezepte und Leckeres

 02.07.2025

Essay

Wenn der Wutanfall kommt

Kleine Kinder können herausfordern. Was macht das mit Eltern? Reflexionen einer Mutter

von Nicole Dreyfus  02.07.2025

Meinung

Die Erforschung von Antisemitismus braucht Haltung und Strukturen

Damit die universitäre Wissenschaft effektiv zur Bekämpfung von Judenhass beitragen kann, muss sie zum einen schonungslos selbstkritisch sein und zum anderen nachhaltiger finanziert werden

von Lennard Schmidt, Marc Seul, Salome Richter  02.07.2025

Nach Skandal-Konzert

Keine Bühne bieten: Bob-Vylan-Auftritt in Köln gestrichen

Die Punkband hatte beim Glastonbury-Festival israelischen Soldaten den Tod gewünscht

 02.07.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 3. Juli bis zum 10. Juli

 02.07.2025

Kino

Düstere Dinosaurier, frisches Starfutter

Neuer »Jurassic World«-Film mit Scarlett Johansson läuft in Deutschland an

von Ronny Thorau  01.07.2025

Berlin

Ausstellung »Die Nazis waren ja nicht einfach weg« startet

Die Aufarbeitung der NS-Zeit hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wendungen genommen. Eine neue Ausstellung in Berlin schaut mit dem Blick junger Menschen darauf zurück

von Lukas Philippi  01.07.2025

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025