Polio

Virus unter Kontrolle

Polio-Impfung im Children’s Medical Center in Neve Yaakov, Jerusalem Foto: Flash 90

Das Gebet »Mi schebarach« ist ein Segen für Kranke oder Verletzte und für die Hoffnung auf ihre Genesung. In der Beit-El-Synagoge in Jerusalem werden die heiligen Worte seit sechs Monaten von Josef Amar gesprochen. Eine Nichte des ultraorthodoxen Juden erkrankte im Frühjahr an Polio. »Mit Entsetzen akzeptierte unsere Familie das Schicksal des Mädchens«, erzählt er. »Der Allmächtige hat unsere Vorfahren beschützt und wird auch diese Tochter Israels segnen.«

Unerwartet informierte Israel am 15. April die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass das Land seit Anfang März acht Fälle von Polio-Infizierungen unter Kleinkindern verzeichnete. Im selben Zeitraum waren auch in London und New York plötzlich einzelne Polio-Fälle aufgetreten. Im Stadtgebiet von New York wurden daraufhin Spuren des Virus in Abwasserproben nachgewiesen.

kampagne Als Reaktion auf den ersten Nachweis seit 1989 leitete das israelische Gesundheitsministerium eine Kampagne mit inaktiviertem Polio-Impfstoff und sofortigen Nachholimpfungen ein. Nachdem die Kampagne zunächst nur für Jerusalem, Bnei Brak, Beit Schemesch und Tiberias galt, wurde die Immunisierung dagegen landesweit ausgedehnt. »Unsere Gebete und das schnelle Handeln der Ärzte haben meine Nichte gerettet«, sagt Josef Amar.

Polio ist eine hochansteckende Krankheit, die durch das Poliovirus aus der Familie der Enteroviren verursacht wird. Auch als Kinderlähmung bekannt, dringt es in Gehirn und Rückenmark ein und kann zu Behinderungen oder zum Tod führen. Besonders gefährdet sind Kinder bis zum fünften Lebensjahr und diejenigen, die an einer Immunsuppression leiden.

Epidemie Der Erreger führt zu einer der weltweit häufigsten und tödlichsten Epidemien. In Israel erkrankten mehr als 4700 Menschen daran, 760 von ihnen starben. Im Jahr 1957 begann Jerusalem mit der Impfung gegen Polio, das Ausmaß der Morbidität hat sich seitdem deutlich verringert. Zusätzlich verfügt der jüdische Staat seit 1988 über ein Umweltüberwachungssystem mit Abwasserproben, um das Virus, das von Trägern mit dem Kot ausgeschieden wird, zu erkennen und Interventionsmaßnahmen einzuleiten, bevor es zu Krankheiten kommt.

Nachdem sich mit dem Neuerscheinen unter zahlreichen Eltern Panik breitmachte, schätzt die WHO angesichts der hohen Durchimpfungsrate und des robusten Überwachungssystems in Israel das Risiko einer nationalen Ausbreitung mittlerweile als moderat ein.

»Wir haben das Virus unter Kontrolle«, sagt Sharon Alroy-Preis, Leiterin des öffentlichen Gesundheitswesens im israelischen Gesundheitsministerium. »Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 17 Jahren werden nicht mehr zur Schluckimpfung (OPV) mit den Eltern eingeladen.« Einer der Hauptgründe des jüngsten Polio-Ausbruchs sei ein Mangel an Impfungen gegen die Krankheit.

Unerwartet informierte Israel die WHO, man habe seit Anfang März acht Fälle verzeichnet.

Aufgrund der häufigen Schulschließungen in den vergangenen Jahren der Covid-Pandemie fehle es an logistischer Planung. Dadurch seien viele Kinder mit ihrem routinemäßigen Impfplan in Verzug geraten und so durch das Raster des Gesundheitssystems gefallen. Darüber hinaus gebe es auch viele Eltern, die ihre Kinder aus ideologischen Gründen nicht impfen lassen.

erfolgsquote »Die wichtigste Anweisung an die Säuglingsstationen war es, die Polio-Impfung (IPV) nach sechs – anstatt acht – Wochen zu verabreichen, um Neugeborene zu schützen, gefolgt von OPV nach zweieinhalb Monaten«, erklärt Sharon Alroy-Preis. »Mittlerweile haben Kliniken eine Erfolgsquote von 99 Prozent bei der ersten Injektion beziehungsweise 85 Prozent bei der zweiten.«

Zwar werde ihr Team die Bemühungen landesweit fortsetzen, den oralen Impfstoff aber nur noch bis zum Alter von sechs Jahren verabreichen. Unterdessen hat das Gesundheitsministerium bekannt gegeben, dass im Abwasser keine Polio-Erreger mehr gefunden wurden. »Ein endgültiges Ergebnis wird bis Jahresende erwartet.«

Neben den umfassenden epidemiologischen Untersuchungen kommt aber auch Kritik auf. Zahlreiche Ärzte bemängeln die begrenzten Möglichkeiten des Gesundheitsministeriums aufgrund fehlender Ressourcen. So verkündete das Verteidigungsministerium erst kürzlich, die Probeannahmesysteme sowie Untersuchungen, Hilfen für Krankenhäuser und andere unterstützende Verfahren, die während des Covid-19-Betriebs gewährt wurden, auf ein Minimum zu reduzieren.

prävention »Man hätte nicht nur temporäre externe Systeme zur Corona-Behandlung einrichten sollen«, sagt Hagai Levin, Leiter des Ärzteverbandes der öffentlichen Gesundheit. »Ein dauerhaftes Verfahren kommunaler Gesundheitsförderer sowie Abteilungen in den lokalen Behörden mit gut geschulten Krankenschwestern würden nicht nur den Impfschutz erhöhen, sondern in Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit auch eine bessere Prävention des Polio-Ausbruchs ermöglichen.«

Das Gesundheitsministerium fördert zudem ein Programm, um globale Informationen über Epidemien zu sammeln. Doch während der Erforschung des Coronavirus wurde der Etat gekürzt. »Unser Gesundheitssystem ist vorbildlich«, erklärt Levin. »Doch anstatt es zu unterstützen, wird immer mehr abgebaut. Die Zahl des medizinischen Personals wurde verringert, und die Arbeitsbedingungen werden schlechter. Da es kaum Neueinstellungen gibt, könnte das System bald in Gefahr sein.«

WAHLKAMPF Währenddessen versuchten die Parteien, im Wahlkampf in diesem Bereich zu punkten. Auch einige religiöse Gruppen haben mittlerweile die Wichtigkeit der Impfungen erkannt. Doch die meisten sind überzeugt, dass auch das Poliovirus eine Strafe Gottes war.

»Durch unsere Gebete hoffen wir, dass der Ewige das jüdische Volk segnet und vor allem Bösen beschützt«, ist Josef Amar überzeugt. »Alles ist vorherbestimmt.« Während sich der angehende Rabbiner in der Beit-El-Synagoge in Jerusalem für die Genesung seiner vom Erreger befallenen Nichte an Gott wendet, betet er auch für ein starkes Israel. »Neben der Sicherheit und den jüdischen Institutionen muss auch die Medizin gefördert werden«, sagt er. »Hoffen wir, dass die nächste Regierung die Situation ernst nimmt.«

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