Germanistik

Verwobenheit als Kern des Schreibens

Wie sich deutsche Schriftsteller nach 1945 mit Schuld und Schulddiskursen auseinandersetzten

von Saskia Fischer  08.03.2020 07:38 Uhr

Die Laokoon-Gruppe zeigt den trojanischen Apollopriester und seine Söhne, die sich von einer Seeschlange bedroht im Todeskampf befinden. Foto: Getty Images / istock

Wie sich deutsche Schriftsteller nach 1945 mit Schuld und Schulddiskursen auseinandersetzten

von Saskia Fischer  08.03.2020 07:38 Uhr

Neben Liebe und Tod gehört Schuld zu den zentralen Großthemen der Literatur, die seit jeher Anlass für Erzählungen geben. Bereits ein flüchtiger Blick auf den Kanon westlicher Literaturtradition legt die Vermutung nahe, dass begangenes oder erlittenes Unrecht künstlerische Kreativität in besonderem Maße anregt, ja, das Erzählen geradezu notwendig werden lässt.

Komplexität Dies mag damit zusammenhängen, dass das Problem der Schuld in seiner komplexen Gestalt und Widersprüchlichkeit nicht immer vollständig im Bereich des Rechts zu klären ist, sondern weitere grundlegende ethische, moralische und (subjekt-)philosophische Fragen aufwirft und zudem häufig das Schuldgefühl miteinschließt.

Die Literatur scheint der Ort zu sein, wo diese Vielschichtigkeit und Emotionalität der Schuld intensiv ihren Ausdruck finden kann und sich andere Möglichkeiten jenseits eines rein rationalen oder juristischen Umgangs mit diesem Thema eröffnen. Doch so sehr die Autonomie und das kritische Potenzial der Literatur immer wieder betont werden, ist die Literatur bei Weitem kein unabhängiges oder in Schuldzusammenhänge »unverstricktes« Medium.

Dies bezeugt die Literatur nach 1945 eindrücklich. Sie ist Teil eines divergenten Diskurses über die Frage der Schuld, der aggressive Schuldabwehr und exkulpatorische Bestrebungen ebenso miteinschließt wie die Verständigung darüber, wie die Verantwortlichkeit der Deutschen für die nationalsozialistischen Verbrechen zu bestimmen ist.

KOLLEKTIV Besonders die kontrovers diskutierte Frage nach einer Kollektivschuld der Deutschen unterstreicht die Schwierigkeit, die Grenzen von Schuld und Verantwortung klar zu benennen. Dabei gründete der Vorwurf der Kollektivschuld, wie er etwa auf von den Alliierten verteilten Plakaten zu finden war, die Bilder aus den Konzentrationslagern mit dem Schriftzug »Diese Schandtaten: Eure Schuld!« betitelten, keineswegs auf einer offiziellen Verlautbarung der Militärregierung. Das Ziel war nicht, Kollektivstrafen zu verhängen. Vielmehr ging es darum, wie es auch C.G. Jung formulierte, die Deutschen überhaupt zu einem Schuld- oder Verantwortungsgefühl für die NS-Verbrechen zu bewegen.

Karl Jaspers fragte schon 1946 in »Die Schuldfrage« nach der Verantwortung des Einzelnen.

Allerdings waren nur wenige in der frühen Nachkriegsphase bereit, das Thema der Schuld umfassend aufzuarbeiten. Karl Jaspers, der bereits 1946 mit seinem Essay Die Schuldfrage auf den Vorwurf der Kollektivschuld reagierte, gehörte jedoch dazu. Sein Traktat, in dem er zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld unterschied, ist wohl das bekannteste Beispiel für einen der ersten Versuche, differenziert nach der Schuld und Mitschuld und den angemessenen Formen und Möglichkeiten der Schuldfeststellung zu fragen.

Vor allem aber tritt besonders in der philosophischen Beschäftigung mit der Schuld nach 1945 eine zentrale Spannung zutage, wie sie etwa Hannah Arendt in ihren Schriften immer wieder benannt hat. Einerseits wird an Schuldvorstellungen festgehalten, denen ein Menschenbild zugrunde liegt, das von einem freien und prinzipiell autonom handelnden Wesen ausgeht – eine Idee, die in der aristotelischen Philosophie wurzelt und von der jüdischen und christlichen Tradition geteilt wird. Andererseits jedoch sieht sich gerade ein aus dem jüdisch-christlichen Denken hergeleiteter Schuldbegriff angesichts des systematisch und bürokratisch organisierten Genozids an den Juden Europas zunehmend herausgefordert.

ÜBERLEBENDE Die Literatur nach 1945 reagiert auf diese Problematik auf eigene Weise. Neben Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter (1963), das weitreichende Diskussionen über die Rolle der katholischen Kirche zur Zeit des Dritten Reichs und das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Geschichte entfachte, sorgte auch Peter Weiss’ Ermittlung (1965) über die deutschen Grenzen hinaus für Aufsehen. Weiss’ Stück, das den Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), an dem der Autor als Beobachter teilgenommen hatte, auf die Bühne brachte, ließ erstmals und ausführlich die Überlebenden der Konzentrationslager selbst zu Wort kommen.

Beide Stücke markieren eine entscheidende Zäsur für das Theater und die Literatur der Nachkriegszeit. Im Rahmen der öffentlichen Kulturinstitution der bürgerlichen Gesellschaft, dem Theater, wurde auf Basis umfangreichen dokumentarischen Materials unmissverständlich herausgestellt, welche grausamen Verbrechen in den Konzentrationslagern begangen wurden. Doch die Dramen sind zugleich Reflexionsmedien ihrer eigenen Zeit und müssen somit auch im Kontext der sich anbahnenden gesellschaftlichen Umbrüche gesehen werden, die mit der Kritik an den zentralen Ins­titutionen der Bundesrepublik und ihren Vertretern einhergingen, ebenso wie der beginnenden strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrecher, die bis in die 60er-Jahre noch weitgehend unbehelligt in Deutschland lebten.

Peter Weiss’ »Ermittlung« ließ erstmals die Überlebenden der Lager zu Wort kommen.

Dabei geht es Peter Weiss in der Ermittlung nicht lediglich darum, die Angeklagten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses erneut schuldig zu sprechen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die Mentalität und Haltung der Deutschen, die das Dritte Reich erst möglich gemacht haben, bloßzulegen. Die Grausamkeit der Angeklagten, ihre Schuld, werden in den detaillierten, kaum auszuhaltenden Berichten der Zeugen deutlich benannt. Umso schwieriger aber verhält es sich mit der Unterstützung und Komplizenschaft der vielen nicht Angeklagten, denen das Stück ebenfalls nachgeht und die etwa in den anhaltenden Vorurteilen und Anfeindungen, denen die Zeugen ausgesetzt sind, überdauert haben.

Weiss verzichtet am Ende seines Stücks auf einen Schuldspruch. Er möchte gerade keine Sündenböcke markieren, die alle Deutschen entschulden und von der Verantwortung für die Geschichte freisprechen. Was bleibt, ist der Prozess, die »Ermittlung« der Schuld selbst, die fortwährend zu leisten ist. Man kann das Stück – und sein Titel unterstreicht dies – auch als einen Appell an das Publikum verstehen, die Schuldfrage konsequent zu stellen, sich die eigene Verantwortung und Schuldverstrickung einzugestehen und fortwährend zu erinnern.

BRUCH Für diese anhaltende Verwicklung in einen Schuldzusammenhang findet Peter Weiss in seiner 1965 gehaltenen Rede »Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache« anlässlich des ihm verliehenen Lessing-Preises ein eindrückliches Bild. In der Betrachtung der Plastik des trojanischen Apollopriesters Laokoon und seiner Söhne, die sich von einer Seeschlange bedroht im Todeskampf befinden, bestimmt Weiss zugleich seine eigene Autorposition.

Es war diese berühmte antike Statuengruppe, an der sich am Ende des 18. Jahrhunderts mit Lessing anhebend der zentrale Diskurs über Ethik und Ästhetik der Kunst des Altertums, dem Kunstideal der Klassik, entfaltete. Von diesem ausgehend, versichert sich auch Weiss der Grenzen und Möglichkeiten der Kunst, großes Leid zu beschreiben, nicht ohne jedoch den Bruch, den Auschwitz für die Literatur nach 1945 bedeutet, deutlich zu kennzeichnen.

Wie für viele Literaten nach Ende des Zweiten Weltkrieges diente auch Weiss die Bezugnahme auf die Tradition dazu, die grundlegende Frage zu stellen, was ästhetisch und kulturell noch Gültigkeit besitzt. Direkt holt er in seiner Beschreibung des antiken Kunstwerkes die literarische Tradition in die Gegenwart und leitet aus ihr seine ganz eigene künstlerische Ausgangslage ab.

Leid Wie Laokoons ältester Sohn, der von der Seeschlange umschlungen wird, aber genug Abstand besitzt, um den sterbenden Vater zu beobachten, versteht auch Weiss sich als Zeuge großen Leids, der »wie die Seinen mit dem Geschehnis verknotet« ist. Das Bemühen, die »Fesselung zu lockern«, bleibt für ihn ein anhaltendes, immer wieder auch vom Scheitern bedrohtes Vorhaben: »Der Augenblick, in dem sich seine gesamte Aufmerksamkeit darauf richtete, das Aussichtslose zu durchbrechen, dauerte an. Von manchen wurde gesagt, dass dieser Augenblick ein Leben lang währen kann.«

Damit entwickelt Weiss eine Vorstellung von Literatur und Autorschaft, die sich mit der Vergangenheit und Schuld verwoben weiß und die Verwicklung in einen Schuld- und Leidenszusammenhang zum Kern des eigenen Schreibens erklärt.

Poetik Auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller hat in ihrer in den späten 90er-Jahren gehaltenen Bonner Poetik-Vorlesung einen ähnlichen Ansatz verfolgt. Im Unterschied zu einem Umgang mit der Vergangenheit, der auf Überwindung der Schuld angelegt ist, bringen Weiss und Müller mit ihren Literaturkonzepten eine besondere Qualität der Literatur zum Vorschein, die diese in den Diskurs der Schuld einbringen kann: Als diskursives Medium ist es gerade die Literatur, die sich der Deutung von Schuld differenziert annehmen kann.

Als komplexes Kunstwerk vermag sie zudem, die Ambivalenz in der Beurteilung der Schuld zur Darstellung zu bringen, ohne sie auflösen zu müssen und die mit der Schuld einhergehende und noch in der Gegenwart anhaltende Herausforderung im Bewusstsein zu halten.

Die Autorin ist Koordinatorin der Forschungsgruppe »›Felix Culpa‹? Zur kulturellen Produktivität der Schuld« am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden »Vor lauter Schuld ... Schuldverstrickungen im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs« (18. bis 20. März in Frankfurt) halten wird.

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