documenta

»Unglaublich, dass so etwas passieren konnte«

Das antisemitische Werk von Taring Padi wurde zunächst verhüllt und dann ganz abgebaut. Foto: picture alliance/dpa

Werke jüdischer Künstler aus Israel sind bei der weltweit bedeutendsten Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst unerwünscht. Auf der 15. documenta in Kassel wurde die künstlerische Leitung dem Kollektiv ruangrupa aus Indonesien übertragen, das sich bewusst für eine Ausladung Israels entschied.

Mitglieder der Gruppe aus dem Inselstaat in Südostasien stehen der antisemitischen BDS-Bewegung nahe, die gegen die Existenz des jüdischen Staates kämpft. Wie sehen israelische Künstler den Skandal von Kassel, der in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland erst ankam, seitdem antisemitische Motive bei mehreren ausgestellten Stücken auffielen?

EIN HOD »Unglaublich, dass so etwas passieren konnte«, schimpft Max Hoffman aus Ein Hod, einem Künstlerdorf südlich von Haifa. »Dass nach der Schoa eine Veranstaltung mit antisemitischem Charakter in Deutschland stattfindet, macht mich traurig.« Der inzwischen 90-Jährige ehemalige Comiczeichner und Bildhauer, der ursprünglich aus Wien stammt, verließ seine Heimat nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 und emigrierte in das britische Mandatsgebiet Palästina.

In seiner Jugend übte Marcel Janco – einer der Gründer von Ein Hod und Urväter der Dadaismus-Bewegung – starken Einfluss auf ihn aus. Später begleitete Hoffman Janco auch bei Ausstellungen in Europa. Zusammen waren sie 1987 bei der documenta 8 in Kassel. »Damals erlebte ich ein neues Deutschland«, sagt Hoffman. »Heute aber ist der Antisemitismus in der Gesellschaft wieder salonfähig. Seine Fratze zeigt sich auch auf der documenta.«

»Heute ist der Antisemitismus in der Gesellschaft wieder salonfähig. Seine Fratze zeigt sich auch auf der documenta.«

Max Hoffman, israelischer Künstler

Der Skandal konnte nicht mehr ignoriert werden, nachdem das Wandgemälde »People’s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi kurz vor Eröffnung der documenta fifteen auf dem zentralen Friedrichsplatz in der nordhessischen Stadt aufgestellt worden war.

Die israelische Botschaft in Berlin sprach von »Propaganda wie unter Goebbels«. Auf diesem zunächst verhüllten und einen Tag später abgebauten, zehn mal zehn Meter großen Wandbild von 2002 erkennt man unter anderem einen orthodoxen Juden mit Schläfenlocken, er hat blutrote Augen und Vampirzähne. Auf seinem Hut trägt er eine SS-Rune.

i24-NEWS »Schwierig, die diesjährige documenta«, sagt die Journalistin Caroline Amsalem vom israelischen Nachrichtensender i24-News. »Einige Werke sind anti-israelisch, da sie die gegenwärtige israelische Besatzungspolitik künstlerisch verarbeiten.« Die Kunstreporterin kritisiert das Taring-Padi-Gemälde als nicht tiefgründig genug, es sei begleitet von Ignoranz und Unwissenheit veröffentlicht worden.

Das Kollektiv bediene sich neben antisemitischer Klischees zudem bei Leitmotiven von Gut und Böse. »Die documenta präsentiert die Perspektive des Globalen Südens und den jüdischen Staat als koloniales Projekt der weißen Europäer«, erklärt Amsalem. »Weshalb nicht nur Israel ausgeladen wurde, sondern auch andere Länder des reichen Nordens, wie zum Beispiel die USA.« Diese Provokationen seien aber misslungen.

Dass sich das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa für die Rechte der Palästinenser einsetzt, ist auch nach Ansicht israelischer Künstler legitim. Doch da die äquatoriale Inselkette Indonesien seit 1963 Westpapua militärisch besetzt hält, erscheint diese Haltung Beobachtern aus Kunst und Politik zumindest fragwürdig. Auch verwundert, dass man den jüdischen Staat dämonisiert, aber Künstler aus der Türkei, China und dem Iran eingeladen hat – Länder mit autoritären, diktatorischen Regierungen.

Zensur »Kunst ist keine Sprache, die in der politischen Sphäre politisch zu interpretieren ist«, erklärt Noemi Givon von der Givon Galerie in Tel Aviv. »Und die documenta bezieht sich auf Kunst, nicht auf Politik.« Die Kunstexpertin kann in der Kasseler Ausstellung keinen Antisemitismus erkennen. Im Gegenteil: Die Kunstfreiheit dürfe alles und keine Zensur sie in irgendeiner Art beschneiden.

Eine Demokratie müsse dies aushalten. »Von mir aus hätten sie das Gemälde nicht abhängen müssen«, sagt Givon. »Vor einigen Jahren präsentierte der israelische Künstler Moshe Gershuni ein Gemälde voller Gewalt, wo Hakenkreuz und Davidstern das Inferno säumen. Im Gegensatz zur diesjährigen documenta verursachte dies keinen Aufschrei.«

Zahlreiche israelische Künstler hätten sich von den Verantwortlichen einen transkulturellen Dialog über ihre Teilnahme gewünscht.

Während die Reaktionen zu den Antisemitismus-Vorwürfen im jüdischen Staat also unterschiedlich ausfallen, hätten sich zahlreiche israelische Künstler von den Verantwortlichen neben einer Kontextualisierung der zensierten Gemälde einen transkulturellen Dialog über ihre Teilnahme gewünscht.

»GLOBALER SÜDEN« »Die Romantisierung des Globalen Südens grenzt an Heuchelei«, sagt Bildhauer Max Hoffman. »Würde die documenta auch islamkritische Kunst präsentieren? Oder die künstlerische Leitung einer israelischen Gruppe übertragen, die ein arabisches Land auslädt?«
Zwar sei die Kunstfreiheit ein Grundrecht jeder westlichen Demokratie.

Doch sie sei auch ein Rechtsgut, das mit anderen Rechtsgütern konkurriere. »Und wenn mit einer Arbeit die Würde oder die Rechte anderer Menschen verletzt werden – oder es auch als volksverhetzender Antisemitismus missbraucht wird –, dann zieht das Argument Kunstfreiheit nicht mehr«, findet Max Hoffman.

Hollywood

Kurioser Kriminalfall

Ihr gemeinsamer Film »Murder Mystery 2« ist ab morgen bei Netflix zu sehen

 30.03.2023

Glosse

Nisht keyn joke

Warum Alpenjiddisch endlich Umgangssprache für alle Menschen auf der Welt werden sollte

von Beni Frenkel  30.03.2023

USA

Seinfelds Jubiläum im New Yorker Beacon Theater

Kein Comedian hatte in der legendären Einrichtung mehr Shows als er

 30.03.2023

Serie

Der Kopf als Rührschüssel

Taffy Brodesser-Akners Bestseller über Midlife-Krisen in New York wurde verfilmt – zum Glück!

von Sophie Albers Ben Chamo  30.03.2023

Tagung

Zum Auflehnen verpflichtet?

Was Widerstand aus den Blickwinkeln der Philosophie, Geschichte, Religion und des Rechts bedeutet

von Heinz-Peter Katlewski  30.03.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 29.03.2023

Berlin

Staatsoper Berlin mit Saison nach Barenboim

Als Dirigent ist er weiterhin beteiligt. Für einige Konzerte ist er eingeplant

von Gerd Roth  29.03.2023

Glosse

Über Charlie Chaplin und andere Scheinjuden

Wie konnte sich die Geschichte von Chaplins Jüdischsein so lange halten?

von Joshua Schultheis  28.03.2023

Studie

Der Chili-Junge

Wie ein Elfjähriger mit einer einzigartigen Genmutation zum Hoffnungsträger in der Schmerzforschung wurde

von Lilly Wolter  28.03.2023