Rezension

Über Istanbul nach Palästina

Istanbul, 1941: Fluchtrouten führten durch die Stadt am Bosporus, während der Weg über fast alle Mittelmeer-Häfen verschlossen war. Foto: ullstein bild - Heinrich Hoffmann

Dass das neue Buch von Reiner Möckelmann Transit Istanbul – Palästina keine leichte Lektüre ist, liegt nicht am Autor, sondern am im Untertitel angeführten Sachgegenstand: »Juden auf der Flucht aus Südosteuropa«. Wobei diese Flucht, so sie denn zustande kam, auf schlimme Weise scheitern konnte.

Reiner Möckelmann, 1941 geboren, Diplomat und Verfasser mehrerer historischer Monografien, ist als ehemaliger Leiter der Wirtschaftsabteilung der Deutschen Botschaft in Ankara (1992–1996) und als Deutscher Generalkonsul in Istanbul (2003–2006) mit den Verhältnissen vor Ort ebenso vertraut wie mit Verwaltungsvorgängen und Behördenschriftsätzen, die bei der Ermöglichung, oder eben Verhinderung, solcher Rettungsversuche eine zentrale Rolle spielten.

Was das Buch ungeachtet der bedrückenden Fakten und Daten erträglich und spannend macht, ist der menschlich-persönliche Kern – mit Flucht- und Überlebensgeschichten von Reiner Möckelmanns Freunden wie Karl Pfeifer (1928–2023), einem ehemaligen Autor dieser Zeitung, der mit 14 Jahren zu den etwa 13.000 Glücklichen gehörte, die es legal über Istanbul nach Palästina schafften und dem Möckelmann sein Buch gewidmet hat.

GEschichte Dessen Geschichte beginnt in einem der »südosteuropäischen Staaten«, deren zunehmend judenfeindliche Maßnahmen der Autor im ersten Teil penibel und bedrückend beschreibt. In Karl Pfeifers Fall in Baden bei Wien, das 1938 die drittgrößte jüdische Gemeinde Österreichs beherbergt und wo die behütete Kindheit des zweiten Sohnes einer geachteten jüdischen Bürgerfamilie kurz nach dessen Schuleintritt durch Prügelattacken älterer Mitschüler ein jähes Ende nimmt und die Familie unter Zurücklassung ihres Vermögens – der Verkauf des schönen Hauses hat gerade einmal die »Reichsfluchtsteuer« gedeckt – nach Ungarn flüchtet, über dessen Staatsbürgerschaft sie nominell verfügt.

Dort mussten sie nun unter drückenden wirtschaftlichen Umständen, auf die Hilfe besser gestellter Verwandter angewiesen, neu anfangen. Eine Welt, in der Juden, wie Möckelmann faktengetreu darstellt, sofern man sie nicht wie die Nazis und deren Bewunderer geradezu direkt verabscheut, als lästiges Problem begriffen werden, das man sich vom Halse schaffen oder gar nicht erst einhandeln möchte. Und dessen irgendwie geartete »Erledigung« man zumindest billigend in Kauf nimmt.

Auswandern ist nur möglich, wenn sich ein Aufnahmeland findet. Doch das demokratische Amerika ist ebenso wenig an jüdischen Flüchtlingen aus Europa interessiert wie das unterbevölkerte Kanada oder das riesige, leere Australien. Einer der wenigen verbleibenden Fluchtpunkte stellt, von Osteuropa aus gesehen, das vom Völkerbund als »Jüdische Heimstätte« deklarierte britische Mandatsgebiet in Palästina dar, das sich nach Ausbruch der Kriegshandlungen nur noch über die Türkei erreichen lässt, die im Zweiten Weltkrieg eine Sonderposition einnimmt.

Einerseits hat die Türkei im Oktober 1939 mit England und Frankreich einen »Beistandspakt« geschlossen, andererseits 1941 einen »Freundschaftsvertrag« mit der Nazi-»Achse« ausgehandelt, aufgrund dessen kriegswichtiges türkisches Chromerz im Austausch gegen deutsche Waffen geliefert wird. Eine ganz spezielle Form der Neutralität also, die sie – neben ihrer besonderen geografischen Lage – in genau die Position versetzt, die im Hollywood-Film Casablanca von 1942 der gleichnamigen Hafenstadt zukommt, wenn auch ohne Drehbuch-Spielwitz, mit echten Menschenleben als Einsatz, vergleichsweise vielen Niederlagen und nur wenigen, hart erarbeiteten Happy Ends.

minderheiten Die Türkei hatte sich nach dem für sie katastrophalen Ausgang des Ersten Weltkriegs, nach welchem sie ihre Niederlage mit dem bis heute nicht offiziell anerkannten Genozid an den Armeniern ausglich, als Nationalstaat neu erfunden. Zudem war sie ethnischen Minderheiten – Griechen, Juden, Armeniern – nicht besonders freundlich gesinnt. Auch wenn im Sinne eines Aufbaus des türkischen Universitätswesens circa 100 deutsche Fachkräfte ins Land gelassen werden, darunter nicht wenige jüdische Flüchtlinge, hat man gleichzeitig türkische Nicht-Muslime, darunter zahlreiche Juden, systematisch aus dem Staatsdienst entlassen.

Die Türkei wollte sich so weit wie möglich aus den Kriegshandlungen heraushalten und erließ entsprechend strenge Einreisebestimmungen. Transitvisa sollten gar nicht erst erteilt werden und bedurften, so dem Gesuch trotzdem stattgegeben wurde, als Ausnahmegenehmigung in jedem einzelnen Fall der eigenhändigen Unterschrift des türkischen Staatspräsidenten.

Umso bewundernswerter ist es, dass es in diesem Spannungsfeld Persönlichkeiten wie Simon Brod gelang, an die 13.000 Juden über Istanbul nach Palästina zu schleusen. Brod war ein türkisch-jüdischer Textilindustrieller aschkenasischer Abstammung und damit einmal mehr ein Außenseiter, denn die meisten türkischen Juden waren Sefarden. 1942 kam Brod wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Und bei der nach ethnischer Zugehörigkeit erhobenen Vermögenssteuer – muslimische Türken fünf Prozent, Griechen 156 Prozent, Juden 179 Prozent, Armenier 222 Prozent – verlor er schließlich ein Großteil seines Vermögens. Allerdings auch im Sinne eines Entgegenkommens der Türkei, das alles andere als selbstverständlich war, betont Möckelmann in seinem Buch.

Transitvisa Nachdem Brod beim Staatspräsidenten 40 Einzelvisa organisiert hat, werden die Bestimmungen schließlich so weit gelockert, dass Transitvisa erteilt werden – vorausgesetzt, dass der Aufenthalt in Istanbul maximal 24 Stunden beträgt und die Ausreise innerhalb von 14 Tagen auf türkischem knappen Rollmaterial erfolgt. Allerdings musste die vorige Gruppe die Türkei bereits verlassen haben und eine britische Einreisezusage für das Mandatsgebiet vorliegen sowie, bei einer Weiterreise über den sichereren, aber längeren Landweg, auch ein Durchreisevisum des von Vichy-Frankreich kontrollierten Syrien. Diese miteinander verzahnten Bestimmungen zogen monatelange, administrative Wartefristen nach sich.

Es waren zwei Monate qualvolle Liegezeit ohne
Landgang-Erlaubnis.

Wenn diese Bedingungen nicht präzise erfüllt sind, kann das katastrophale Folgen haben, wie im Falle der »Struma«, deren fast 800 Passagiere die Türkei nicht an Land, die Engländer als »Vordrängler« nicht nach Palästina, Bulgarien als Juden nicht nach Bulgarien zurücklassen will, was schließlich damit endet, dass man das Schiff nach über zwei Monaten qualvoller Liegezeit ohne Landgang-Erlaubnis trotz defektem Motor auf hohe See schleppt, wo es (wahrscheinlich von einem sowjetischen U-Boot) torpediert wird, worauf der einzige Überlebende nach ein paar Tagen im Krankenhaus wegen Visa-Vergehen in türkische Haft kommt. Bis ihm der unentwegte Simon Brod die Einreise nach Palästina organisiert und bezahlt.

Karl Pfeifer, der Widmungsträger, hat mehr Glück. Seine Gruppe, die im Januar 1943 in Budapest aufbrach, erlebte ihren gefährlichsten Augenblick in Bulgarien, als deutsche Uniformierte die jüdischen Kinder an der bulgarisch-türkischen Grenze im letzten Augenblick an der rettenden Weiterreise hindern wollten, was ihnen jedoch, dank Vorweisen der Visitenkarte eines prominenten Bulgaren, nicht gelang. Ein geschenktes Leben, das Karl Pfeifer bis in sein 95. Lebensjahr erfüllt und ausgekostet hat – unter anderem durch Anregung und Unterstützung des vorliegenden Buches.

Reiner Möckelmann: »Transit Istanbul – Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa«. wbg Theiss, Darmstadt 2023, 368 S., 36 €

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