Glosse

Über Charlie Chaplin und andere Scheinjuden

Wie konnte sich die Geschichte von Chaplins Jüdischsein so lange halten?

von Joshua Schultheis  28.03.2023 21:26 Uhr

Charlie Chaplin, 1915 Foto: picture alliance / Everett Collection

Wie konnte sich die Geschichte von Chaplins Jüdischsein so lange halten?

von Joshua Schultheis  28.03.2023 21:26 Uhr

Was haben Bruce Springsteen, Mike Meyers und Rupert Murdoch gemeinsam? Genau – sie sind keine Juden! Selbst der geneigteste Leser mag sich nun fragen, warum das bedeutsam sein sollte. Schließlich sind die meisten Menschen keine Juden. Lassen Sie mich also ergänzen: Obwohl die drei Genannten gar keine Juden sind, werden sie häufig für welche gehalten. Die ersten beiden wegen ihres jüdisch klingenden Nachnamens, der dritte vermutlich weil … na ja … weil er eben steinreich ist.

Doch die Persönlichkeit, der das fälschliche Jude-Sein bis heute am hartnäckigsten nachgesagt wird, habe ich bisher ausgelassen. Dazu eine kleine Anekdote: Als ich einmal mit einer Gruppe aus Deutschland Israel besuchte, gab es auch ein Treffen mit Einheimischen. Diese spielten mit uns ein Spiel: Jeder bekam einen Zettel mit dem Namen einer berühmten Jüdin oder eines berühmten Juden auf den Rücken geklebt und musste sich dann über Ja-und-Nein-Fragen erschließen, um wen es sich handelt.

raten Die einen errieten »ihren« Namen früher, die anderen später, doch eine verzweifelte Teilnehmerin kam und kam einfach nicht darauf. Als ich ihr schließlich auf den Rücken schaute, war mir auch sofort klar, warum. Darauf stand: Charlie Chaplin. Wie konnte sich die Geschichte von Chaplins Jüdischsein so lange halten, dass offenbar selbst einige Israelis sie heute noch glauben?

Diese Frage lässt mich einfach nicht los. Die berühmteste Figur Chaplins, der Tramp, wirkte auf viele seiner Zeitgenossen eindeutig jüdisch. Der tollpatschige, aber gutherzige Vagabund war der Prototyp des »Schlemihl«, des albernen Pechvogels in der Literatur des osteuropäischen Judentums.

Ein Filmkritiker der 1920er-Jahre hat dazu eine interessante Begebenheit festgehalten, die ihm bei einer Vorführung von The Gold Rush untergekommen ist: Als der Tramp mal wieder in eine aussichtslose Lage gerät und von fiesen Gestalten drangsaliert wird, soll eine jüdische Frau laut geklagt haben: »Oy! Was wollen die Gojim bloß von ihm?«

falschinformation Die Ansicht, dass Chaplin Jude sei, war so weit verbreitet, dass sie 1948 sogar Eingang in eine jüdische Enzyklopädie fand. Dort wurde behauptet, dass er als Israel Thornstein in Frankreich als Kind osteuropäischer Juden geboren wurde. Selbst das FBI, dem Chaplins linke Haltung ein Dorn im Auge war, fiel offenbar auf diese Falschinformation herein. Jahrelang soll der Geheimdienst vergeblich der These nachgegangen sein, dass der in London geborene Hollywoodstar in Wirklichkeit ein jüdischer Kommunist sei.

Dass mit dem Mythos seiner angeblichen jüdischen Herkunft, dem übrigens auch die Nazis anhingen, nie wirklich aufgeräumt wurde, liegt auch daran, dass Chaplin nicht einsah, warum er diese Annahme öffentlich leugnen sollte. Er war der Ansicht, damit den Antisemiten nur in die Hände zu spielen. Zu eigen machte er sich die Falschannahme aber auch nicht. Als ihn einmal ein Reporter fragte, ob er wirklich Jude sei, soll Chaplin geantwortet haben: »Dieses Glück habe ich leider nicht.«

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024