Dana von Suffrin

Tagtraum in München

Historikerin und Autorin: Dana von Suffrin Foto: Christian Rudnik

Eine Wohnung in München. Im Kühlschrank wartet eine Packung cholesterinsenkende Margarine darauf, ranzig zu werden. Im alten Kinderzimmer steht nur noch ein Wäscheständer. Auf dem grünen Sofa aus stachligen garstigen Fasern sitzt die Erzählerin und wartet, dass der Entrümpler kommt und die Möbel mit dem Geruch ihres Vaters mitnimmt – eines Israelis, der einmal über das Bein einer deutschen Frau stolperte und so hängen blieb in einem Land, in dem eigentlich von Anfang an alles schiefgegangen war. Erst die Promotion, schließlich die Ehe.

Geht es nach der Tochter, soll der Entrümpler das alles mitnehmen. Auch die aufgeräumte Schreibtischschublade, die ganz anders ist, als der Vater selbst war: Ein Paranoiker, der nach »Juden-in-der-Diaspora-Art« seine Haustür immer zweimal abschließt, resigniert auf das Leben des Bruders in Tel Aviv schielt und Angst hat, dass irgendwann das Geld so knapp wird, dass es nicht einmal mehr für die in der Mikrowelle aufgewärmten Kartoffeln reicht.

Ein Mann, der jeden Streit mit der deutschen Frau verliert

Ein Mann, der jeden Streit mit der deutschen Frau verliert und sich dann wie ein verletztes Tier an seinen Schreibtisch zurückzieht – wo die jüngste Tochter ihn aufsucht, versucht, den Vater zu trösten, und sich wahnsinnig schuldig fühlt.

All das soll der Entrümpler mitnehmen, nur nicht das Fünf-Mark-Stück, das die Erzählerin in einer Schublade findet und ihrer verhassten und gleichzeitig geliebten Schwester mitbringen will, würde sie nur zwischen dem ganzen Kram ihre Telefonnummer finden.

Der Roman ist ein Tagtraum, der erst gestört wird, als der Entrümpler vorfährt.

Dana von Suffrin schreibt in ihrem zweiten Roman Nochmal von vorne über eine Familie, die für ihre Mitglieder abwechselnd eine Parodie, ein Fluch oder völlig egal ist – außer, so scheint es, für die Erzählerin selbst, die jüngste Tochter, die versucht, sich an die wenigen Momente der Harmonie zu klammern, und sich jetzt doch nur daran erinnern kann, wie die Eltern sich aneinander quälten.

Schon in ihrem Romandebüt Otto erzählte die Autorin rührend und ehrlich, wie ein Vater zum Pflegefall wird. Dafür erhielt sie gleich mehrere Auszeichnungen. Aber auch ihr zweites Familiendrama ist preisverdächtig, hat es doch alles, womit schon Otto überzeugte: Die Autorin erzählt in ihrem ersten Buch eine Geschichte, die »zugleich sehr lustig und wahnsinnig traurig« ist, lobte die »Süddeutsche Zeitung«.

Wenn die Eltern sich streiten ...

Wenn die Eltern sich streiten, über die Krimis im Fernsehen, oder weil die Mutter ihren Chef »Eichmann« genannt hat, dann ist das so komisch, so abwegig und doch so vertraut, dass man lachen möchte, aber es bleibt einem im Halse stecken, denn diese ganze Szenerie liest man ja nur, weil die jüngste Tochter starr daneben hockt und sich alles merkt. So gut, dass sie jetzt noch jedes Detail abspulen kann, während sie auf dem grünen Sofa wartet.

Der Roman ist ein Tagtraum, der erst gestört wird, als der Entrümpler vorfährt. Die Assoziationen jagen einander, die Sätze fließen übereinander, und dann steht man auch schon in dem hässlichen Haus einer Vorstadt, wo die Erzählerin endlich ihrer Schwester in den Armen liegt, von der man froh ist, dass sie noch da ist, nachdem die Großmutter mit den dicken Brüsten, der braun gebrannte Onkel und sein hübscher Sohn, die Mutter und schließlich der Vater – jeder auf seine Weise – gestorben sind.

Und so sind die beiden Schwestern die Einzigen, die sich an diese Welten erinnern und einander erzählen, was sonst ja niemand mehr verstehen kann. Und das ist so warm und schön, dass man ganz vergisst, dass man gerade den traurigsten Roman seit Langem gelesen hat.

Dana von Suffrin: »Nochmal von vorne«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 240 S., 23 €

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025

Hommage

Pionier des Erinnerns

Der Filmemacher und Journalist Claude Lanzmann wäre diese Woche 100 Jahre alt geworden. Unser Autor ist ihm mehrmals persönlich begegnet

von Vincent von Wroblewsky  26.11.2025

Zahl der Woche

6500 Rabbiner

Funfacts & Wissenswertes

 26.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Coole Nichten, coole Tanten

von Katrin Richter  26.11.2025

Kulturkolumne

Lob der Anwesenheit

Lahav Shani und Jason Stanley: Warum unser Autor nicht nur in der Westend-Synagoge vor Ort ist

von Eugen El  26.11.2025

Film

Shira Haas ist Teil der Netflix-Serie »The Boys from Brazil«

Die israelische Schauspielerin ist aus »Shtisel« und »Unorthodox« bekannt

 26.11.2025

Zwischenruf

Was bleibt von uns?

Was bleibt eigentlich von uns, wenn Apple mal wieder ein Update schickt, das alles löscht? Jede Höhlenmalerei erzählt mehr als eine nicht mehr lesbare Floppy Disk

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025