Literatur

Auf der Suche nach einer graueren Sprache

Zum 100. Geburtstag des deutschsprachigen Dichters Paul Celan

von Helmut Böttiger  23.11.2020 10:39 Uhr Aktualisiert

»In den Äther der reinen Poesie«: Paul Celan im Jahr 1967 auf der Frankfurter Buchmesse Foto: ullstein bild - bpk/Digne M. Mar

Zum 100. Geburtstag des deutschsprachigen Dichters Paul Celan

von Helmut Böttiger  23.11.2020 10:39 Uhr Aktualisiert

Paul Celans Muttersprache war Deutsch. Und er schrieb in der Sprache der Mörder seiner Mutter. Diese Konstellation hat Gedichte hervorgebracht, die im 20. Jahrhundert einzigartig dastehen. Die besondere Tragik, in die Celan geriet, wird darin deutlich, was die Muttersprache zunächst konkret für ihn bedeutete.

Denn seine eigene Mutter war stark auf die deutsche Bildungstradition bezogen, besonders auf den Klang der deutschen Dichtung im Wien der Jahrhundertwende. Ihre Bezugspunkte waren Rainer Maria Rilke und das Burgtheater. Celans Bindung zu seiner Mutter war sehr eng, und er wuchs früh in die Vorstellung einer deutschen Hochkultur hinein – in Czernowitz, seiner Heimatstadt, gehörte sie wesentlich zur Identität des jüdischen Bürgertums.

Diese entlegene Stadt am östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs gehörte 1920, dem Geburtsjahr Celans, der sich heute zum 100. Mal jährt, bereits zum Königreich Rumänien, doch ihre multikulturelle Bevölkerungsstruktur hatte etwas Außergewöhnliches. Das Bürgertum in Czernowitz bestand zum größten Teil aus Juden, und für diese Schicht blieb das Hochdeutsche die Sprache, durch die sie sich definierte.

Für Paul Celan, dessen Vater ein relativ erfolgloser Holzhändler war, bildete sie zudem die Sprache des gesellschaftlichen Aufstiegs. Es ist unübersehbar, dass seine Mutter in seinen Gedichten von Anfang an eine große Rolle spielt, während der Vater kaum erwähnt wird.

LEBENSGEFÜHL Die hohe Sprache der deutschen Lyrik erlebte der im Königreich Rumänien isolierte deutschsprachige Jude als seine mögliche Heimat. Der Einfluss Rilkes ist in seinen Gedichten der Czernowitzer Zeit unüberhörbar, daneben aber auch derjenige Georg Trakls und Stefan Georges.

Die Dichtung als Verheißung – in dieses Lebensgefühl ist Celan hineingewachsen. Dann aber geschah etwas abrupt Anderes. Im Juli 1941 besetzten deutsche Kommandos die Stadt. Celans Eltern wurden in das ukrainische Gebiet jenseits des Dnjestr verschleppt und dort ermordet. Paul Celan war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und wurde als Zwangsarbeiter in ein Lager eingezogen.

Der Wiener Ton der Jahrhundertwende wurde durch deutsche Märsche unmöglich gemacht.

Dieser biografische Bruch durch den beispiellosen Terror der deutschen Nationalsozialisten hatte auch auf sein Schreiben entscheidende Auswirkungen. Der Wiener Ton der Jahrhundertwende, der spätromantische Duktus aus Verklärung und Verzicht wurde überdeckt und unmöglich gemacht durch deutsche Märsche, durch Stiefel, Schaufel und Grab.

Auch wie Celan dann nach 1945 unter die Deutschen kam, ist ein Teil seiner Tragik. Dass er Paris als Wohnort wählte, hatte seine Gründe. Er sah sich darauf verwiesen, im literarischen Milieu der Bundesrepublik Gehör finden zu müssen – in Strukturen also, die durchdrungen waren von der nationalsozialistischen Vergangenheit und von den Versuchen, diese zu verdrängen.

literaturkritiker Man hat es heute weitgehend vergessen, dass das kulturelle Leben noch bis mindestens Ende der 50er-Jahre weitgehend von Funktionären und Publizisten bestimmt wurde, die in Hitlers Regime verwickelt waren. Dazu zählten auch die einflussreichsten Literaturkritiker: Friedrich Sieburg, Hans Egon Holthusen oder Günter Blöcker.

Die Rezension, die Celan am meisten zusetzte und die für seine Biografie eine wesentliche Rolle spielte, stammte von Günter Blöcker aus dem Jahr 1959. Er attestierte dem Dichter, dass ihn »der Kommunikationscharakter der Sprache« weniger als andere hemme und belaste, und fügte hinzu: »Das mag an seiner Herkunft liegen.«

Damit setzte er die einschlägige Tradition antisemitischer Stereotype fort. Blöcker sprach Celan die Zugehörigkeit zur eigentlichen deutschen Sprache ab und warf ihm vor, »im Leeren zu agieren«. Das war symptomatisch. Celans Gedichte sprachen unverkennbar von der Erfahrung des deutschen Massenmords an den europäischen Juden, und Blöcker sah nur »Augenmusik, optische Partituren, die nicht voll zum Klang entbunden sind«.

lob Dieselbe Haltung konnte sich aber auch als Lob äußern, und das war für Celan genauso schmerzhaft. Hans Egon Holthusen schrieb 1954 über Celans »Todesfuge«, in der eindeutig die Konzentrationslager benannt werden, Folgendes: Dieses Gedicht würde »der blutigen Schreckenskammer der Geschichte entfliegen …, um aufzusteigen in den Äther der reinen Poesie«.

Damit war die bestimmende Rezeption Celans im deutschen Sprachraum vorgegeben. Man sah den Dichter in der Tradition eines olympischen Tons, in einer poetischen Linie von Hölderlin über Stefan George, die über die kruden Ereignisse der Zeitgeschichte erhaben sei.

Und vor allem im Umfeld des Philosophen Martin Heidegger begann man, in Celan einen zeitgenössischen Wiedergänger Hölderlins zu sehen. Dass Celan Jude war und seine Gedichte sich immer wieder dem katastrophalen Geschichtsbruch durch die deutschen Nationalsozialisten aussetzten – davon fand sich bei seinen kulturkonservativen deutschen Verehrern kein Wort.

APORIEN Dies ist ein Problem, dessen Aporien erst heute allmählich fassbar werden. Denn Celan fühlte sich von dem Dichtungsbegriff Martin Heideggers durchaus angesprochen. Die deutsche Sprache als das Haus des Seins – dieses Bild war auch für Celan zentral, nur erwies sich sein Haus als auf einem völlig anderen Fundament gebaut. Es befand sich nicht auf dem althergebrachten deutschen Boden, der durch die Nazis blutdurchtränkt war.

Nach 1945 versuchte Celan jahrelang erfolglos, im deutschen Literaturbetrieb wahrgenommen zu werden. Die einzige Möglichkeit, die es für ihn gab, war die Gruppe 47 – eine von den Auguren der Adenauerzeit verachtete junge Vereinigung meist unbekannter Autoren. Celans Lesung bei der Gruppe 47 im Jahr 1952 wird seit den 80er-Jahren auffallend negativ konnotiert, aber es ist unbestreitbar, dass sein Auftritt letztlich ein Erfolg war.

Was den Argwohn eines Teils der Gruppe 47 erregte, war allerdings seine Vortragsweise: eine fast singende, an der Schauspielkunst eines Alexander Moissi orientierte althabsburgische Diktion. Die traditionelle politische Linke in Deutschland wandte sich nach der Erfahrung durch die Nazis gegen eine als pathetisch und weihevoll empfundene Literatur, und das führte zu fatalen Missverständnissen.

konflikt Celan geriet in einen Konflikt, der für ihn nicht zu lösen war. Freunde wie Heinrich Böll unterstützten ihn, und er teilte ihre politischen Auffassungen. Aber literarisch empfand er sie nicht als Ansprechpartner, er sprach hier von »Zeitungslesern«. Auf der anderen Seite gab es Schriftstellerkollegen wie Rolf Schroers, die ihn als Dichter in geistesaristokratischer Tradition bewunderten – aber sie desavouierten sich letztlich doch als deutschnationale und antisemitische Ideologen.

Dass Celan Jude war, darüber verloren seine kulturkonservativen Verehrer kein Wort.

Zu den großen Zeugnissen deutscher Dichtung gehört, wie Celan sich gegen seine Faszination durch Heidegger wehrt. Hölderlins Hymne »Andenken«, die für Heidegger die Suche nach einem Urgrund deutscher Sprache verkörperte, fügt Celan ein eigenes Gedicht mit dem Titel »Andenken« hinzu. Und er liest hier Hölderlin gegen die Vereinnahmung durch Heidegger als seinen jüdischen Bruder – als einen Außenseiter, einen Randgängigen, einen Fremdling.

Der Weg, den Celan nach der Erfahrung des deutschen Massenmords an den Juden für seine deutsche Sprache suchte, ist ästhetisch aufsehenerregend und hat keinen Vergleich. Das, was seine Vorstellung von Dichtung teilweise ausmachte, war durch den Nationalsozialismus kontaminiert worden – die Kunstreligion Stefan Georges etwa wie auch die Philosophie Martin Heideggers.

Künstlerische Ausdrucksweisen, die dafür nicht vorgesehen waren, wurden von Celan nun aus existenziellen Gründen in Verbindung mit der Dimension der Zeitgeschichte gebracht. Dieser Konflikt wird in seinen Gedichten immer wieder reflektiert und in allen Konsequenzen befragt. Im Lauf der 50er-Jahre wandte er sich immer dezidierter gegen »Wohlklang«, gegen »Schönheit« und »Musikalität« und beschrieb seine Suche nach einer »graueren« Sprache.

VEREINNAHMUNG Es wird häufig übersehen, dass Celan deshalb der Wirkung seiner berühmten »Todesfuge« schon wenige Jahre später skeptisch gegenüberstand. Natürlich hat er dieses Gedicht, das einen großen Sog entwickelt und die Welt der Konzentrationslager und die Welt der Kultur miteinander konfrontiert, nie zurückgenommen. Aber man muss es äußerst ernst nehmen, was er Mitte der 60er-Jahre zu Protokoll gab: Die »Todesfuge« sei mittlerweile »lesebuchreif gedroschen« worden.

Er bezog sich damit darauf, dass dieses Gedicht früh zu einem Symbol für die »Vergangenheitsbewältigung« in der Bundesrepublik geworden war, zum Katalysator einer »Wiedergutmachung«. Es ist bezeichnend, wie radikal sich Celan bereits in den 50er-Jahren von der Sprache dieses Gedichts entfernte und sich einer solchen offiziellen Vereinnahmung entzog.

Bereits in den 50er-Jahren entfernte sich Celan von der Sprache seiner »Todesfuge«.

Eine wichtige Inspiration war für ihn in dieser Zeit die Begegnung mit den Büchern des russischen jüdischen Dichters Ossip Mandelstam, der in einem stalinistischen Straflager umgebracht wurde und den er als ein geistiges Pendant empfand. Celan hatte russische Ausgaben Mandelstams, der in Deutschland völlig unbekannt war, Mitte der 50er-Jahre bei den Pariser Bouquinisten an der Seine entdeckt und in ihm biografisch wie ästhetisch einen Schicksalsgefährten erkannt.

widerhall Seine »grauere Sprache« fand hier einen Widerhall. Sie war das Resultat einer historischen Erfahrung, die den Antrieb, Gedichte zu schreiben, zwangsläufig verändern musste.

Celans spezifischer Klang und seine kristallinen Bild-Evokationen entstanden aus der Verbindung zwischen seinen frühen Einflüssen durch einen hohen deutschen lyrischen Duktus und der historischen Katastrophe, den Nationalsozialisten ausgesetzt zu sein, die sich auf genau diesen deutschen Duktus beriefen.

Das Entscheidende in der poetischen Entwicklung Celans ereignete sich erst nach der »Todesfuge«. Seitdem arbeitete er konsequent allem entgegen, was mit einer vordergründigen Verständlichkeit und Harmonie zu tun hatte. Es geht um Vieldeutiges, um Ambivalenzen, um etwas Unauslotbares, es geht um die Leerstellen und Zwischenräume. Gerade darin zeigt sich seine Größe. Er eignet sich nicht zur Sakralisierung. Man sollte ihn immer wieder neu lesen.

Der Autor ist Literaturkritiker und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm: »Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist« (Galiani, Berlin 2020).

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